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Das Gehirn vergisst eine Corona-Erkrankung nicht

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Welche Langzeitfolgen das Coronavirus auf die Gehirnleistung hat, wollen Grazer Wissenschaftler im neu geschaffenen „Human Factors Labor“ bei Joanneum Research ergründen – unter Einsatz innovativer Forschungsmethoden. Auch Demenzerkrankungen werden erforscht.

„Das Virus lässt das Gehirn um zehn Jahre altern!“ Mit dieser Meldung ließen Wissenschaftler des Imperial College in London kürzlich aufhorchen. „Der Studie zufolge nimmt die kognitive Leistung von Menschen, die eine Covid-Infektion überstanden haben, alarmierend ab, selbst wenn der akute Krankheitsverlauf nur leicht war“, erklärt Lucas Paletta von der Forschungsgesellschaft Joanneum in Graz. Er leitet dort das kürzlich neu gegründete Human Factors Labor und will nun nachprüfen, ob das Coronavirus tatsächlich nicht nur körperliche, sondern auch kognitive Auswirkungen hat.

Das Besondere dabei: „Wir können mit Hightech arbeiten, die es ermöglichen soll, dass die erforderlichen Tests nicht im Labor oder Krankenhaus durchgeführt werden, sondern zu Hause.“ Daher könne ein Betroffener auch laufend getestet werden statt in Abständen von mehreren Wochen oder gar Monaten. Das gestatte eine exaktere Erkennung des Verlaufs und damit auch eine zuverlässigere Prognose und gezieltere therapeutische Maßnahmen.

Tragbare Biosensoren

Zum Einsatz kommen im Human Factors Labor Eye-Tracking-Brillen, mit deren Hilfe man nicht nur die Augenbewegungen aufzeichnen, sondern auch dank entsprechender Analyseverfahren den Aufmerksamkeitsgrad ermitteln kann. Tragbare Biosensoren messen die körperliche Befindlichkeit, woraus beispielsweise Rückschlüsse auf Stress oder Emotionen gezogen werden. Und sogenannte Virtualizer helfen bei der Untersuchung von Orientierungsvermögen und Situationsbewusstsein.

Vision der Forscher ist es, die Testpersonen mithilfe dieser und weiterer innovativer Geräte bei den Tätigkeiten des Alltags zu beobachten, sodass die Diagnose erfolgt, ohne dass überhaupt die Schaffung einer speziellen Testsituation notwendig ist. So weit ist man aber derzeit – noch – nicht. Vorerst bekommen die Probanden ein Tablet oder ein Mobiltelefon in die Hand gedrückt und absolvieren Computerspiele aus der Abteilung „serious games“, bei denen es meist ums Lernen oder Problemlösen geht. „Beispielsweise kann man damit feststellen, ob die spielende Person das Wichtige schnell erfasst, oder auch, ob sie es schafft, etwas bewusst nicht zu beachten, also absichtlich wegzuschauen, was für Menschen mit kognitiven Defiziten gar nicht so leicht ist.“

Es habe sich laut Paletta erwiesen, dass man so unterschiedliche kognitive Fähigkeiten überprüfen kann, etwa die Gedächtnisleistung, räumliche Wahrnehmung, das kreative Potenzial oder die Koordinationsfähigkeit, also das Multi-tasking. Das Labor kooperiert dabei mit der Med-Uni Graz. Die Studie zur Feststellung allfälliger Covid-Folgen steht noch ganz am Anfang. Derzeit sei man noch auf der Suche nach einem geeigneten Projekt, über das die Finanzierung erfolgen soll, bestätigt Paletta.

Das dafür vorgesehene Methodeninventar steht trotzdem bereits im Einsatz: Ein Forschungsschwerpunkt des Human Factors Labors, in Kooperation mit dem Spin-off-Unternmehmen „digitAAL Life GmBH“, ist die Früherkennung von Demenzerscheinungen mit dem Ziel einer rechtzeitigen Intervention, um das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen. Damit sei es bereits gelungen, sehr frühe Signale zu orten, die möglicherweise auf eine Demenzerkrankung hindeuten. „In weiterer Folge kann man dann ein gezieltes, personalisiertes Training durchführen“, erklärt Paletta.

Die Arbeit des Human Factors Labors dreht sich aber nicht nur darum, erkrankte Menschen zu unterstützen. Weitere mögliche Forschungsfragen sind unter anderem: Wie hoch ist der Stresslevel eines Feuerwehrmanns im Einsatz? Wie aufmerksam bedient man ein autonomes Fahrzeug? Die Ergebnisse sollen in die Optimierung von Arbeitsabläufen einfließen, in die kognitive Leistungsdiagnostik im Sport oder in die Entwicklung von Assistenzsystemen.

Ein wichtiges Einsatzgebiet sieht Paletta darüber hinaus in der Entwicklung menschlicher Faktoren in sozialen Robotern, wie sie in Zukunft vermutlich vermehrt im mobilen sowie stationären Pflegebereich zur Motivation pflegebedürftiger Menschen, zur Unterhaltung oder als interaktive Haushaltshelfer zum Einsatz kommen.

LEXIKON

Human Factors ist der englische Sammelbegriff für die Gesamtheit der psychischen und kognitiven Fähigkeiten von Menschen. Ein Augenmerk der Forschung gilt dem Zusammenspiel zwischen diesen Faktoren und einer zunehmend automatisierten Welt – mit dem Ziel, die Interaktion durch eine Optimierung dieser Welt möglichst reibungsfrei zu gestalten. Fehler sollen vermieden, die Effektivität des Mensch-Maschine-Gesamtsystems erhöht und für den Menschen eine bedienbare technische Umwelt, aber auch Unterstützung im Alltag geboten werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2020)

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