Gastkommentar

Sind wir nicht schon längst auf den Politischen Islam hereingefallen?

Bild aus einer Moschee.
Bild aus einer Moschee.APA/AFP/LOUISA GOULIAMAKI
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Begriffe wie Islamfeindlichkeit, Islamophobie, antimuslimischer Rassismus sind zu Kampfbegriffen des Politischen Islam geworden.

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Anfang September dieses Jahres gründete das deutsche Bundesinnenministerium einen Expertenkreis gegen Muslimfeindlichkeit. Als dies in der Öffentlichkeit bekannt wurde, kam niemand auf die Idee zu hinterfragen, was genau mit Muslimfeindlichkeit gemeint sei und wo sich diese von einer berechtigten Islamkritik abgrenze. Niemand rief nach einer wissenschaftlichen Definition des Begriffs, die vor Pauschalverurteilungen schützen soll. Anders verläuft die Debatte rund um die Einrichtung der Dokumentationsstelle Politischer Islam durch die österreichische Regierung.

Fast alle Akteure dieser Debatte erwecken den Eindruck, dass dieser Begriff des Politischen Islam eine Neuschöpfung der österreichischen Regierung sei, angeblich gebe es weder eine Definition des Begriffs noch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung damit. Im Grunde handelt es sich beim Versuch der Verdrängung der Auseinandersetzung mit dem Politischen Islam vor allem um eine Strategie seiner Akteure, die darauf abzielt, erstens einen Opferstatus der Muslime zu etablieren und zweitens, sich selbst vor jeglicher Form der Kritik zu immunisieren.

Daher sind Begriffe wie Islamfeindlichkeit, Islamophobie, antimuslimischer Rassismus inzwischen zu Kampfbegriffen des Politischen Islam geworden, mit denen dieser suggerieren will, westliche Gesellschaften seien per se islamfeindlich. Und wir alle machen mit. Indem niemand nach einer klaren Definition dieser Begriffe fragt und kaum jemand sich für deren wissenschaftliche Erforschung zu interessieren scheint, aber fast alle sie unreflektiert verwenden, unterstützen wir ungewollt diese antiwestliche Ideologie des Politischen Islam.

Der Islamophobie-Report, der unter der Schirmherrschaft der türkischen regierungsnahen SETA-Stiftung herausgegeben wird, ist nur ein Beispiel von vielen. Dort tauchen auch Namen von Muslimen auf, die eine Gemeinsamkeit haben: Sie alle haben Kritik am Politischen Islam öffentlich geäußert. Das reichte schon aus, um sie als Islamophobe zu degradieren.

Definition des Politischen Islam

Die Errichtung der Dokumentationsstelle Politischer Islam durch die österreichische Bundesregierung hat offensichtlich die ganze betroffene Szene auf den Plan gerufen. Die Nervosität mancher zeigt sich in der reflexartigen Zurückweisung des Begriffs an sich, und zwar mit dem emotionalen Argument: „So könnten alle Muslime unter Verdacht geraten“. Allerdings wurde die österreichische Bundesregierung nicht müde zu betonen, dass es hierbei keineswegs um einen Kampf gegen den Islam oder die Muslime geht, sondern um einen gemeinsamen gegen den Extremismus. Man wolle auch die Muslime selbst vor denjenigen schützen, die den Islam für ihre politischen Agenden missbrauchen. In letzter Zeit hört man ein anderes Argument: Der Begriff sei kein wissenschaftlicher und kaum erforscht, ihm fehle sogar eine Definition. Irritierend ist dabei, dass inzwischen auch einige Intellektuelle und Islamwissenschaftler dieser Rhetorik zum Opfer gefallen sind.

Die Dokumentationsstelle Politischer Islam hat eine klare Arbeitsdefinition des Begriffs: Der Politische Islam ist eine Herrschaftsideologie, die die Umgestaltung bzw. Beeinflussung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von solchen Werten und Normen anstrebt, die von deren Verfechtern als islamisch angesehen werden, die aber im Widerspruch zu den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates und den Menschenrechten stehen.

Die Dokumentationsstelle hat mehrfach darauf hingewiesen, dass der von ihr verwendete Begriff ein Fachbegriff ist (daher schreibe ich ihn hier mit einem groß „P“). Dieser Begriff ist nicht zu verwechseln mit einer politischen Partizipation bzw. einem gesellschaftlichen Engagement der Muslime, um die Gesellschaft mitzugestalten. Nicht jede Form der politischen Partizipation bzw. des gesellschaftlichen Engagements, die religiös motiviert/begründet ist, ist problematisch. Zum Beispiel ist ein religiös motivierter Einsatz (ähnlich wie in der christlichen Sozialethik) für mehr Umweltschutz, für mehr Frauenrechte, für mehr Solidarität mit Armen und Bedürftigen usw. sogar im Sinne demokratischer Prinzipien und des gesellschaftlichen Friedens. Der Politische Islam ist hingegen eine Herrschaftsideologie, die demokratiefeindlich ist.

Die IGGÖ und der Begriff des Politischen Islam

Die islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich will nichts vom Begriff des Politischen Islams wissen und lehnt daher die Zusammenarbeit mit der Dokumentationsstelle ab. Allerdings findet man den Begriff schon in einem Lehrbuch der IRPA (dem privaten Studiengang für das Lehramt für Islamische Religion an Pflichtschulen in Wien), die zur IGGÖ gehört, und zwar für das Fach „politische Philosophie“. In diesem Lehrbuch, das von dem ehemaligen Dozenten Dr. Farid Hafez geschrieben wurde, wird mehrfach auf den Begriff des Politischen Islam rekrutiert.

In diesem Lehrwerk wird der Gründer der Muslimbrüderschaft, Hasan al-Banna als der „Gründungsvater des politischen Islams“ beschrieben. Es handelt sich wohlgemerkt um ein Lehrbuch an einer der IGGÖ zugeordneten Institution zur Ausbildung von Religionslehrkräften für den islamischen Religionsunterricht. Aber jetzt, als die Dokumentationsstelle errichtet wurde, wollte erstaunlicherweise niemand von der IGGÖ mehr etwas von dem Begriff wissen, nicht einmal Dr. Hafez selbst (!).

Lange Tradition in der Wissenschaft

Der Begriff des Politischen Islam wurde zwar 2013 in „The Oxford Handbook of Islam and Politics” beschrieben, die Erforschung des Politischen Islam hatte seine Ursprünge aber schon in den 1960er Jahren. Die Studie zur Muslimbruderschaft von Richard Mitchell „The Society of the Muslim Brothers“, die schon 1969 erschienen ist, gilt als eine der ersten Untersuchungen zum Thema. Ab den 1990er Jahren begann eine interdisziplinäre Erforschung des Phänomens des Politischen Islam und somit eine Professionalisierung des Forschungsfeldes: Dadurch fanden die Politikwissenschaft, die Rechtswissenschaft, die Sozialpsychologie, die Soziologie, die Wirtschaftswissenschaft und die Theologie mehr Zugang zur Erforschung des Politischen Islam.

Durch das Aufkommen der al-Qaida und deren Terroranschlägen begann in den 1990er Jahren die Erforschung der Verbindung des islamischem Fundamentalismus als Ideologie mit dem Terrorismus (z. B. Francois Burgat: Islamism in the Shadow of Al-Qaeda). Und so begann das Forschungsinteresse für die ideologischen Grundlagen des Terrors (z. B. exemplarisch J. C. Zimmermann: „Sayyid Qutb’s Influence on the 11 September Attacks“).

In den letzten Jahren wuchs das wissenschaftliche Interesse zum Thema Politischer Islam, vor allem motiviert durch die immer stärker werdende politische Etablierung der AKP in der Türkei sowie durch die revolutionären Umbrüche in zahlreichen arabischen und nordafrikanischen Ländern der sogenannten MENA-Region (Mittlerer Osten und Nordafrika).

Gerade durch die großen Erfolge der al-Nahda-Partei in Tunesien und der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei der Muslimbrüder in Ägypten kam es im wissenschaftlichen Diskurs zu einer Differenzierung zwischen terroristischen Strömungen des Politischen Islam auf der einen Seite und nicht gewalttätigen Strömungen (exemplarisch: D. L. Phillips: From Bullets to Ballots und B. Tibi: Political Islam, World Politics and Europe). Das heißt, die Entwicklungen innerhalb des Spektrums des Politischen Islam führten dazu, dass die wissenschaftliche Erforschung dieses Phänomens immer differenzierter wurde und wird. Und aus genau diesem Grund haben wir uns innerhalb der Dokumentationsstelle um eine Definition des Politischen Islam bemüht, die den Entwicklungen in Europa gerecht wird. Viele Strömungen des Politischen Islam haben in den letzten Jahren ihre Strategie geändert, vor allem dort, wo Demokratien entstehen bzw. etabliert sind bedienen sie sich immer mehr demokratischen Mitteln, um an die Macht zu kommen und letztendlich ihre undemokratischen Werte umzusetzen. Die Forschung zeigt, wie sie sich nach außen immer moderater geben (exemplarisch J. Schwedler: „Can Islamists Become Moderates?“).

Die Einbindung von Vertretern des Politischen Islam in einigen islamischen Ländern (wie Ägypten, Türkei, Tunesien) führte zu strukturellen und organisatorischen Veränderungen dieser Bewegungen und deren Strategien. Auch dieses Phänomen ist längst ein Bestandteil der wissenschaftlichen Forschung (exemplarisch M. C. Browers: Political Ideology in the Arab World; A. Bayat: Making Islam Democratic; P. Mandaville: Global Political Islam; O. Roy Post-Islamic Revolution).

Thorsten Hasche liefert in seinem Werk „Quo vadis, politischer Islam? AKP, al-Qaida und Muslimbruderschaft in systemtheoretischer Perspektive“ eine exzellente Erforschung und Analyse des Phänomens des Politischen Islam. Aktuell Publikationen zum Thema wurden vor Kurzen durch Susanne Schröter, Heiko Heinisch und Nina Scholz veröffentlicht.

Die hier angesprochenen Studien sollen nur exemplarisch zeigen, wie stark der wissenschaftliche Diskurs rund um den Begriff des Politischen Islam geprägt ist. Dieser Diskurs ist keineswegs ein westlicher, er ist auch im arabischen wie auch im türkischen Raum stark vertreten. Unter dem arabischen Begriff „al-Islam assiyasi“ findet man eine kaum überschaubare Fülle an Fachliteratur zum Thema. Allein wenn man den Begriff „political Islam“ in eine wissenschaftliche Suchmaske eingibt, stößt man auf Tausende von Fachartikeln zu dem Thema.

Wer daher behauptet, der Begriff sei außerhalb der Wissenschaft, der befindet sich selbst außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses und stellt eine inhaltsleere Behauptung auf, die einer fachlichen Überprüfung nicht standhält.

Mouhanad Khorchide (*1971 in Beirut) ist ein österreichischer Soziologe, Islamwissenschaftler und Religionspädagoge. Er lehrt an der Uni Münster und leitet den wissenschaftlichen Beirat der neuen Dokumentationsstelle Politischer Islam.

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