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"Little Vienna" in Shanghai

Megalopolis. Schwer vorstellbar heute, dass das rasant wachsende Shanghai einmal ein "Little Vienna" barg.
Megalopolis. Schwer vorstellbar heute, dass das rasant wachsende Shanghai einmal ein "Little Vienna" barg.(c) APA/AFP/HECTOR RETAMAL (HECTOR RETAMAL)
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Shanghai ist immer anders. Sie bauen es um. Vor 70 Jahren hatte es sogar ein Little Vienna.

Ich kenne Shanghai gut und furchtbar schlecht. Zwischen 1991 und 2015 war ich vier Mal dort. Bei jedem Besuch erkannte ich die Stadt nicht wieder. 2015 beobachtete ich aus einem Hotelfenster im Stadtviertel Hongkou, wie eifrig Longtangs  - traditionelle Wohngassen, anderswo Hutongs - weggerissen und, ebenso eifrig, Wolkenkratzer hochgezogen wurden. Jeder Quadratmeter schien Goldes wert. Mir war damals unklar, dass gerade hier einst "Little Vienna" lag, seit Februar 1943 und unter japanischer Herrschaft in Form des "Shanghaier Ghettos", einer "Designated Area", wo deutschsprachige "Shanghailänder" in beträchtlicher Armut, jedoch unverzagt, Apfelstrudel, Schnitzel und Guglhupf produzierten.

Jüngst träumte ich, ich würde bald nach Shanghai fliegen - 2020 undenkbar. Am nächsten Tag beschloss ich, knapp vor dem Lockdown die Schau "Die Wiener in China" im Jüdischen Museum zu besuchen. Circa 16.000 Geflüchtete erreichten ab den späten 30ern das pulsierende Shanghai, das kaum Beschränkungen für Kaufleute kannte - und keine Einreisevisa. Der Wiener Honorarkonsul Feng Shan Ho hatte ab 1938 entgegen den Anweisungen Ausreisevisa ausgegeben, für viele die letzte Chance zur Flucht.

Die Vertriebenen errichteten in Hongkou, um die Chusan und Ward Road, Heurigen mit Schrammeln, Nachtlokale wie die Pianobar Corsogarten oder  Restaurants wie das Weiße Rössl, dazu Würstelstände, Werkstätten, Schneidereien, Schönheitssalons, Ärzte, Theater, Sportklubs, Gemüseläden und eine Wurstfabrik. Sie publizierten eine zweiwöchentliche Qualitätszeitschrift, die "Gelbe Post", die der "Stürmer" als "jüdisches Gift" bezeichnete. Ihre Mehrheit wohnte meist in billigen, im Chinesisch-Japanischen Krieg zerbombten Gebäuden. Manche blieben bis 1949, als Mao die Stadt übernahm.

Auf 23,5 Quadratkilometern lebt derzeit eine knappe Million Menschen in Hongkou. Auch wenn nur noch wenig auf "Little Vienna" hinweist, ich möchte eines Tages wieder zwischen diesen Wolkenkratzern und Longtangs spazieren. Im Huoshan Park erinnert eine Tafel, das "Designated Area Denkmal", an unsere Shanghailänder.

("Die Presse - Schaufenster", Print-Ausgabe, 13. 11. 2020)

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