Reportage

Tag des Zorns in der deutschen Hauptstadt

Die deutsche Regierungskoalition peitscht ein umstrittenes Infektionsschutzgesetz durch den Bundestag, während vor dem Brandenburger Tor die Proteste eskalieren.

Berlin. Am wolkenverhangenen Himmel über Berlin knattert ein Polizeihubschrauber, während unten zwei blaue Ungetüme mit der Aufschrift „BE 1“ und „BE 3“ Richtung Demonstranten rollen. „BE 1“ und „BE 3“ sind zwei Wasserwerfer der Berliner Polizei. Die Szene flößt Respekt ein. Aber die Demonstranten weichen nicht zurück. Ihre Versammlung ist zwar aufgelöst. Also offiziell. Aber hier geht fast niemand. Und irgendwann setzt die Polizei tatsächlich die Wasserkanonen ein – solche Szenen hat es in Berlin seit Jahren nicht mehr gegeben –, und Einsatzkräfte beginnen, die Menschen auf der klitschnassen Straße zurückzudrängen. Einige leisten Widerstand. Sie rempeln und stoßen. Ein Polizist wehrt sich und schlägt mit der Faust zu. Zwei Männer werden auf die andere Seite der Absperrung gezogen und in Handschellen abgeführt.

Im Herzen Berlins, vor dem Brandenburger Tor, entlud sich am Mittwoch der Protest gegen das neue Infektionsschutzgesetz, das zeitgleich im Bundestag debattiert wurde. In sozialen Netzwerken kursierten Falschmeldungen, wonach auch eine Impfpflicht eingeführt würde und es sich um ein „Ermächtigungsgesetz“ wie zu dunkelsten Zeiten, wie 1933 unter Adolf Hitler, handle. Das neue Gesetz ist zwar umstritten. FDP und Linkspartei zählen zu den Kritikern. Von einem Ermächtigungsgesetz zu reden, halten aber beide Parteien für gefährlichen Unsinn.

Nervöse Stimmung

Schon morgens herrschte Nervosität in der Hauptstadt. Berlin stecken noch die Bilder aus dem August in den Knochen, als rechte Verschwörungstheoretiker die Treppen vor dem Parlament stürmten. Und kürzlich war eine Corona-Demonstration in Leipzig völlig aus dem Ruder gelaufen. Die Polizei wirkte hilflos. Solche Szenen sollten sich nicht wiederholen. Das Innenministerium untersagte deshalb Demonstrationen vor dem Reichstagsgebäude, und Abgeordneten wurde geraten, sich nicht auf der Straße zu zeigen, also auf dem Weg ins Parlament auf die unterirdischen Gänge auszuweichen. Denn der heftige Protest hatte sich digital angekündigt. Postfächer von Abgeordneten wurden in den vergangenen Tagen mit den zum Teil immer selben Protest-Mails geflutet. 35.000 davon erhielt allein Alexander Dobrindt (CSU). Die IT-Systeme waren teilweise gestört. Die Telefonleitungen auch.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

October 16, 2020, Barcelona, Catalonia, Spain: A cook wearing a Guy Fawkes mask takes part in a protest against harsher
Interview

Verschwörungstheorien: "Die Leute sind extremer geworden"

Experte Michael Butter von der Universität Tübingen glaubt an keinen großen Zuwachs bei Verschwörungstheoretikern.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.