Gastkommentar

Warum die Rückkehr in eine Normalität psychologisch dringlich ist

++ THEMENBILD ++ CORONAVIRUS / LOCKDOWN
++ THEMENBILD ++ CORONAVIRUS / LOCKDOWNAPA/HELMUT FOHRINGER
  • Drucken

Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen. Doch was ist, wenn der Ausnahmezustand eine neue Normalität wird?

Gastkommentare und Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen.

Finanzkrise, Flüchtlinge, Terror, Covid-19 - Krisen bedeuten Umbrüche mit ungewissem Ausgang. Doch nicht nur die Krisen selbst bergen psychologische Risiken, sondern auch die Maßnahmen dagegen. Der prolongierte Ausnahmezustand führt zu Habituationseffekten. Wir gewöhnen uns womöglich an autoritäre Deutungs- und Entscheidungsmuster.

"Die machen echt alles mit!" Im Film "Das Experiment" wird die so berühmte wie umstrittene Studie an der Stanford Universität nachgestellt. Das Ziel: menschliches Verhalten in Gefangenschaft zu untersuchen. Die Häftlinge des fiktiven Knasts nahmen das Ganze nicht gleich so ernst, wie geplant. Die Wärter schienen die Kontrolle zu verlieren und griffen zu Gewalt,  die zunehmend eskalierte.  Als der erste Wärter zu Liegestützen als Bestrafung greift, überschreitet er eine Grenze, die im Film fast greifbar wird. Die Wärtergruppe hat ein fatales Aha-Erlebnis: mit denen kann man alles machen, die sind wehrlos. 

Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen. Rechte und damit höchstpersönliche Kontrollbereiche werden - nur während der Dauer des Notfalls - beschnitten. Ein Ausnahmezustand.  Doch was ist, wenn aus der Ausnahme eine neue Normalität wird? Wenn man Grenzen überschreitet hängt vieles auch am Feedback, das man erhält. Lob, Zuspruch oder Ablehung und Widerstand. Das Beschränken von fundamentalen Rechten - auch mit gutem Grund - ist immer eine Ermessensfrage, ist das notwendig,  in welchem Ausmaß? - und wird daher immer strittig sein. Doch wenn sich in die Diskussion merkwürdig oft der Narrativ von der Alternativlosigkeit mischt, wird diese Strittigkeit ausgeblendet.  Schließlich müsste jemand, der das Alternativlose in Zweifel zieht, verrückt sein. Jedenfalls ist er kein ernstzunehmender Gesprächspartner. Die Folge sind Diskurse, wie wir sie von Groupthink-Phänomenen kennen. Die Alternativlosigkeit der Führungsentscheidung und eine massive Einengung der Wahrnehmung werden zur Ideologie. Abweichler werden persönlich angegriffen und diffamiert, wie etwa zuletzt die Epidemiologin Sunetra Gupta von der Universität Oxford zu berichten wusste ("Pseudowissenschaftlerin" war noch die diplomatischste Zurechtweisung für die Lockdown- Kritikerin). Aussagen wie "wenn jemand etwas dagegen hat, will er, dass Menschen sterben" bauen einen ideologischen Schutzwall um an sich pragmatische Maßnahmen. 

Laut Notfallpsychologie durchläuft man mehrere Phasen während einer Krise, wie Schock, Reaktion, Bewältigung,  Neuorientierung. Die Krise zerstört oder beschädigt gewissermaßen den bisherigen Bezugsrahmen für das eigene Leben. Selbst wenn der ursprüngliche Bezugsrahmen so nicht mehr herstellbar ist, ist die mentale Integration der Krise ein wichtiges Ziel. Sie ist die Grundlage für eine Neuorientierung sowie das Fortsetzen eines normalen Lebens, und ja: das kann auch eine andere, veränderte oder neue Normalität sein. Doch ein prolongierter, sich ständig wiederholender Ausnahmezustand ist nicht vorgesehen. 

Ganz klar: Krisen brauchen oft schnelles Handeln.  Hier kann nicht jede Stimme,  jeder Zweifel gehört werden. Sie sind nicht die Zeit um möglichst partizipative Führung einzufordern. Gleichwohl geht es auch darum, den richtigen Moment nicht zu übersehen die Top Down Prozesse wieder durch "normale", demokratischere Entscheidungsprozesse abzulösen und aus autoritären Logiken wieder herauszukommen. 

Repression kommt selten ungetarnt, oft auch unbewusst. Führungskräfte, ob wirtschaftliche oder politische treten nicht an, um Rechte anderer zu verletzen.

Gefährlicher Habituatonseffekte

Doch wer einmal eine rote Linie überschreitet und damit gut fährt, tut sich das nächste Mal leichter es wieder zu tun. Kommt eine neue Krise oder taucht ein größeres Problem auf, ist die Versuchung größer wieder auf "den Ausnahmezustand zurückzugreifen" und außerordentliche Vollmachten einzufordern. Es ist ein gradueller Gewöhnungsprozess, der im scheinbaren Einvernehmen mit den Geführten die Notwendigkeit autoritärer Invasivität begründet. Die Parallelisierung mit dem oben angesprochenen Experiment ist natürlich keine inhaltliche, sie betrifft lediglich die psychologischen Grundierungen. Das erstaunte "das geht!? Das lassen sie sich gefallen?" steht hier für den Beginn gefährlicher Habituatonseffekte, die es zu vermeiden gilt.

Der Krisenbewältigung und der Neuorientierung danach kommt eine besondere Bedeutung zu. Es gilt rasch einen gemeinsamen,  partizipativen Narrativ für das Geschehene zu finden. Wenn sich an die Gesundheitskrise die  Wirtschaftskrise anschließt, sollten wir mental insofern vorbereitet sein, als dass nicht wieder von Ausnahmesituation und besonderen Mitteln gesprochen werden sollte.  Wenn es erwartbar auch mal deutlich abwärts geht im Leben muss nicht die Dauerkrise ausgerufen werden. Nicht jede Widrigkeit im Leben und in der Geschichte eines Landes muss zwangsläufig wieder in eine Zeit der Alternativlosigkeit führen. Insofern ist eine "neue Normalität" durchaus wünschenswert. 

Dr. Christoph Augner ist Arbeits- und Organisationspsychologie sowie Autor des Buchs „Selbstoptimierung ist auch keine Lösung“.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.