Durch die Grenzsperren und Reiserestriktionen wegen Corona habe sich ein „Rückstau" gebildet, sagt Michael Spindelegger, Chef des Internationalen Zentrums für Migrationspolitik in Wien. Wirtschaftliche Probleme wegen Corona dürfen die Abwanderung zusätzlich anheizen.
Nach einem hoffentlich absehbaren Ende der Corona-Pandemie samt Öffnung nationaler Grenzen und Verkehrsverbindungen steht mit ziemlicher Sicherheit ein enormer Abstieg der legalen und illegalen Migration bevor. Davor warnte am Freitag der Generaldirektor des Internationalen Zentrums für Migrationspolitik (ICMPD) in Wien, Michael Spindelegger.
Der frühere ÖVP-Außenminister und Vizekanzler rief die europäischen Staaten im Gespräch mit der APA auf, sich auf eine deutliche Zunahme der Migration nach Corona vorzubereiten. "Es gibt eine starke Migrationserwartung nach Ende der Restriktionen", sagte Spindelegger. Es gebe schon jetzt einen migratorischen "Rückstau", und der Wanderungsdruck könnte durch erhöhte wirtschaftliche Schwierigkeiten wegen Corona zunehmen.
Zustrom aus Tunesien wegen Tourismus-Kollaps
Konkret verwies Spindelegger etwa auf Tunesien, wo der Zusammenbruch des Tourismussektors bereits zu einer Migrationsbewegung nach Italien geführt hat. Zudem seien in der Krise die Überweisungen von Migranten an ihre Angehörigen in den Herkunftsländern um 20 Prozent zurückgegangen. Weil die Angehörigen damit weniger Geld zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse hätten, wachse die Abwanderungsneigung in den Herkunftsländern.
Die Wiener Organisation sehe zwar keine so gewaltige Migrationswelle wie in den Jahren 2015 und 2016, durch die aktuell geringen Zahlen werde es aber "sicher" einen Anstieg geben, sagte Spindelegger. Die Coronakrise sei eine Chance für Europa, sich in Sachen Migration besser vorzubereiten. Konkret nannte er den Grenzschutz, aber auch Kooperationsvereinbarungen mit Herkunfts- und Transitländern.
Zugleich pochte er darauf, das Element der legalen Migration nicht aus den Augen zu verlieren. "Da gibt es noch viel Luft nach oben", sagte er mit Blick auf die Zurückhaltung vieler Staaten. Auch wegen der Terrorangst würden "alle auf der Bremse stehen". Doch sei es besser, sich die Migranten selbst auszusuchen. Unter Verweis auf entsprechende Projekte von Spanien und Marokko etwa plädierte Spindelegger dafür, in Herkunftsländern gezielt nach den Bedürfnissen von Unternehmen in den Zielländern auszubilden.
Mehrtägige Online-Konferenz
Spindelegger äußerte sich nach Ende der "Vienna Migration Conference", bei der Experten und Spitzenvertreter europäischer Regierungen über die aktuellen Herausforderungen diskutierten. Heuer geschah das per Internet und Telekonferenz; mit durchschnittlich 2000 Teilnehmern pro Tag sei die Reichweite indes sogar größer gewesen als in früheren Jahren.
Als potenziellen "Durchbruch" in der EU-Migrationspolitik sieht Spindelegger das Pilotprojekt der EU-Kommission an, in einem von ihr betriebenen Flüchtlingslager "Prescreening-Verfahren" durchzuführen. Innerhalb von fünf Tagen soll festgestellt werden, ob ein Asylwerber überhaupt Chance auf Asyl hat. Fällt das Urteil negativ aus, soll mit dem Betroffenen gleich eine Rückführungsvereinbarung ausverhandelt werden. Dies könnte zu einer deutlichen Entlastung des Asylsystems führen. Spindelegger verwies darauf, dass europaweit ohnehin rund die Hälfte aller Asylanträge abgelehnt werde.
Getragen wird ICMPD in Wien (rund 350 Mitarbeiter, 700 freie Mitarbeiter und Experten, gegründet 1993) von 18 europäischen Staaten, darunter Österreich. An Bord sind "Migrationshardliner" wie Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei, aber auch Länder mit einem liberaleren Zugang wie Portugal und Schweden. Vor zwei Jahren ist die Türkei beigetreten.
(APA)