Ski alpin

Mikaela Shiffrins Selbstfindung im Starthaus

Mikaela Shiffrin steigt in Finnland in den Ski-Weltcup ein. Ob sie wieder ein Rentier gewinnt?
Mikaela Shiffrin steigt in Finnland in den Ski-Weltcup ein. Ob sie wieder ein Rentier gewinnt?GEPA pictures/ Harald Steiner
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Nach 300 Tagen kehrt Mikaela Shiffrin in Levi in den Weltcup-Zirkus zurück und empfindet es „fast wie Urlaub“. Der US-Star, 25, hat Potenzial für Rekorde bewiesen, doch die nächsten Schwünge stehen ganz im Zeichen der Dankbarkeit.

Levi/Wien. Rund 200.000 Rentiere gibt es in Finnland. Die meisten davon gehören Samen, wie sich die indigene Gruppe ursprünglicher Wanderhirten in Lappland selbst nennt. Und dann gibt es noch die speziellen „Renntiere“ in Levi: Dort wird für den Slalomsieg traditionell eine lebende Trophäe überreicht. Mit Rudolph (2013), Sven (2016), Mr. Gru (2018) und Ingemar (2019) besitzt Mikaela Shiffrin schon eine ganze Herde, die an diesem Wochenende weiter wachsen könnte. Die Rückenbeschwerden, die sie erstmals seit 2012 den Auftakt in Sölden verpassen hatte lassen, sind abgeklungen, sodass der US-Star heute (10.15/13.15 Uhr, live ORF1) nach exakt 300 Tagen ihr Comeback zwischen den Torstangen gibt.

Zehn Monate, nach denen die Welt für Shiffrin nicht mehr dieselbe ist. Der Unfalltod von Vater Jeff Anfang Februar hat tiefe Wunden hinterlassen. Sie dachte an Rücktritt – und entschied sich dagegen. „Ehrlich gesagt fühlt sich Rennfahren nach Erleichterung an. Zurück ins Starthaus zu kommen, wird mich daran erinnern, was ich tue. Nicht wer ich bin, aber was ich tue“, erklärte die 25-Jährige. „Ich fühle das und ich werde das noch lang fühlen. Das ist das Leben, jeder muss mit etwas zurechtkommen.“

Die Rückkehr in den Weltcup-Zirkus empfindet Shiffrin „fast wie Urlaub“. „So habe ich früher nicht gedacht, aber jetzt bin ich dankbar, hier zu sein und freue mich darauf“, sagte sie. Zwei Wochen lang hat sie ausschließlich Slalom trainiert, jene Disziplin, in der sie 43 Weltcupsiege, sechs Kristallkugeln, vier WM-Medaillen und einmal Olympiagold gewonnen hat. Diese Erfolge sprechen für sich, und so verwies sie in gewohnt bescheidener Manier auf fehlende Wettkampfpraxis und die Stärke ihrer Rivalinnen wie Petra Vlhová. Im letzten direkten Duell im Jänner hatte die Slowakin erstmals seit 2017 gesiegt und letztlich auch die Slalom-Kugel geerbt. Shiffrins Ziel für Levi: „Im Optimalfall aus jedem Schwung einen guten zu machen. Der hoffentlich schnell ist.“

Auch Trainer Mike Day, seit 2016 an ihrer Seite, bremste die Erwartungen, verglich es mit einem Comeback nach einer Verletzung. „Einer anderen Art davon.“ Doch Shiffrin wisse, dass sie nach wie vor sehr schnell Skifahren könne. „Es gibt viele Fragezeichen, aber letztlich ist sie eine Siegerin und hat gezeigt, dass sie diesen Instinkt im Wettkampf hat“, betonte Day. Wie zuletzt wird die US-Amerikanerin nicht alle Rennen bestreiten, sondern sich Pausen nehmen und etwa voraussichtlich die Parellelrennen in Lech/Zürs auslassen. Zumal Shiffrin Business-Agenden, die früher ihr Vater führte, übernommen hat. In seinem Gedenken hat sie mit Sponsoren einen drei Millionen Dollar schweren Fonds ins Leben gerufen, der US-Wintersportler in der Corona-Zeit unterstützt.

Nur sie selbst kann sich Grenzen setzen

Zur Erinnerung: Shiffrin war, als sie ausgebremst wurde, mittendrin, Geschichte im alpinen Skisport zu schreiben. Mit 66 Weltcupsiegen im Alter von 25 Jahren ist sowohl die weibliche Bestmarke von Landsfrau Lindsey Vonn (82) als auch die absolute von Ingemar Stenmark (86) nur noch eine Frage der Zeit. Nicht zuletzt, da sie als eine von erst sieben Athletinnen schon in allen fünf Disziplinen (Abfahrt, Super-G, RTL, Slalom und Kombination) gewonnen hat.

Bereits in Levi könnte Shiffrin mit ihrem 67. Triumph mit Marcel Hirscher gleichziehen. Selbst im direkten Vergleich mit Österreichs Superstar braucht sie sich nicht zu verstecken: Bei olympischem Edelmetall (zweimal Gold, einmal Silber) liegt sie ebenso gleichauf wie bei fünfmal WM-Einzelgold (gesamt: sieben zu neun). Nur dreimal in ihrer Karriere blieb Shiffrin zu Saisonende ohne Kristall: Bei ihrer Premiere 2011/12, nach einer Knieverletzung 2015/16 und im vergangenen Frühjahr, als nach der Trauerzeit Corona dem finalen Angriff einen Strich durch die Rechnung machte. Der Rekord von Hirschers acht Gesamtsiegen in Folge scheint nun außer Reichweite, nicht aber die Gesamtzahl von 20 Kugeln. Denn Shiffrin hat bereits gezeigt, was möglich ist, als sie 2019 auf einen Schlag vier ihrer bislang elf Kristalltrophäen geholt hat.

Noch aber macht sich Shiffrin „deutlich weniger Gedanken als in den vergangenen Jahren“ über die große Kugel. Die Herangehensweise sei diesmal eine andere. „Das Ganze läuft momentan unter dem Motto Dankbarkeit. Und ich hoffe, das bleibt auch so für den Rest meines Lebens.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2020)

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