Unterwegs

Ohne Gepäck, ohne Unterkunft, ohne Ausgaben, ohne Ziel reisen: Könnten wir das noch?

Im Spätsommer 1963 fasste der 23-jährige Französischlehrer Jean Pastureau einen radikalen Entschluss.

Nach dem unglücklichen Ende einer Liebesbeziehung, die er während eines Aufenthalts in Sofia begonnen hatte, und vor dem Antritt einer Professorenstelle in Aix-en-Provence wollte er sich an einem „Nicht-Ort aufhalten, wo mich niemand kennt“.

In Ermangelung einer einsamen Insel beabsichtigte er, sich „ohne Gepäck, ohne Geld, ohne zu essen in einer Großstadt aufzulösen“. Pastureau wählte Brüssel: „Eine Stadt, von der ich unfähig war, den Namen auch nur einer Straße oder jenen der Kathedrale zu nennen, von der ich die Bevölkerungszahl ebenso wenig kannte wie die Farbe der Autobusse: Es war perfekt.“

Nur mit dem Retourticket nach Paris sowie einem Slip und einem Paar Socken als Reserve in der Sakkotasche hielt Pastureau seine urbane Askese zehn Tage lang aus. Er schlief erst in einem Rohbau, dann in einer verlassenen Möbelfabrik. Mehr als ein halbes Jahrhundert behielt er diese Episode für sich, heuer veröffentlichte er sie als elegantes Büchlein mit dem Titel „Une Histoire Belge“ beim kleinen, feinen Pariser Verlag und Buchgeschäft Transboréal (ich bete zu allen Göttern, dass er seine pandemiebedingte Schließung überlebt).

Ohne einen Groschen, ohne zu besichtigen, zu essen, ohne Dach über dem Kopf in einer fremden Stadt sein: Könnten wir das noch? Mir wäre das gewiss zu extrem. Doch die Vorstellung, sich zumindest zeitweilig anderswo ohne Verpflichtungen auflösen zu können, ist in Zeiten von Reiseverboten und Ausgangsbeschränkungen phänomenal reizvoll. ⫻

oliver.grimm@diepresse.com

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