Neues Buch

Die Stunde des ehrbaren Journalisten

Christian Lorenz Müller zoomt unangenehme Ereignisse nahe an seine Wahlheimat Salzburg heran.
Christian Lorenz Müller zoomt unangenehme Ereignisse nahe an seine Wahlheimat Salzburg heran. Johannes Amersdorfer
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Christian Lorenz Müller nimmt die Flüchtlingskrise und die fiktive Schließung der deutschen Grenze zum Anlass für eine Gewissenserforschung, die bis zur Balkankrise zurückreicht.

Romane, die das aktuelle Zeitgeschehen behandeln, erzählen meist von Geschehnissen, die zur Zeit des Erscheinens bereits Vergangenheit sind. Das ist gut, denn Reflexion braucht Zeit und Abstand. Es sind aber keine historischen Romane. Und so lesen sie sich oft wie die Zeitung von gestern. Das muss nicht schlecht sein, hat auch etwas Erleichterndes: Das haben wir auch ausgehalten.

Im Fall von Christian Lorenz Müllers jüngstem Buch, „Unerhörte Nachrichten“, ist diese Erleichterung trügerisch. Die Fragen, die hier gestellt werden, sind ungelöst. Müller erzählt von der Situation, als Tausende Flüchtlinge aus den Krisen- und Kriegsgebieten der Welt – Syrien, Afghanistan, dem Irak – über die europäischen Grenzen kamen und in die reichen Länder des Nordens strömten. Gefühlsmäßig ist dieses Jahr 2015 weit weg, Pandemie und Lockdowns, der Terroranschlag in Wien, die Wahlen in den USA – die Ereignisse des Jahres 2020 haben die Flüchtlinge in den Hintergrund gedrängt. Dennoch ertrinken immer noch Menschen im Mare nostrum, gerade eskaliert die Lage auf den Kanaren.

Realiter ist es meistens Deutschland, das Flüchtlinge aufnimmt. In Christian Lorenz Müllers Roman aber macht gerade Deutschland die Grenzen vollkommen dicht, errichtet sogar heimlich einen Zaun an der Grenze zu Salzburg. Dort, in einer der Grenzstädte, müht sich indes die Hauptfigur, Ingo Prähausner, ein kleines lokales Anzeigenblatt vor dem Untergang zu retten.

Plötzlich berühmt. Prähausner hat früher für große Tageszeitungen gearbeitet, sich aber bei den Kollegen unbeliebt gemacht, weil er ihnen Fehler in den Geschichten nachgewiesen hat. Schließlich bleibt ihm nichts anderes übrig, als bei dem Gratisblatt anzuheuern, das er schließlich leitet. Die insgesamt drei Redakteure berichten über geänderte Einbahnregelungen oder ungeschnittene Hecken, die das Ortsbild stören.
Jetzt aber ist die Kleinstadt plötzlich im Zentrum des Weltgeschehens, die Artikel des Gratisblatts werden von den großen Medien übernommen.

Unter anderen taucht auch Marina – Prähausners ehemalige Geliebte – wieder auf, die bei einer großen deutschen Zeitung in Hamburg angeheuert hat. Mit ihr hat Prähausner einst über den Jugoslawien-Krieg berichtet. Dort ist etwas passiert, was seine spätere Besessenheit für lauteren Journalismus ausgelöst hat. Den Medien wirft er vor, sie hätten, als das Land zerfiel, Öl ins schwelende Feuer gegossen. Indem sie über Gräuel und Vergewaltigungen berichteten, von denen die Menschen sonst nicht erfahren hätten, haben sie Nachbarn, die früher friedlich nebeneinander gelebt haben, gegeneinander aufgewiegelt, Misstrauen gesät und schließlich Krieg geerntet.

Formal hat sich Müller etwas getraut. Der Text wird durch Interviews unterbrochen, die die Hauptfigur mit politischen Entscheidungsträgern führt. Das Frage-Antwort-Spiel setzt er aber auch schon einmal ein, wenn Prähausner mit seiner Ex-Freundin spricht. Die Szenen, die die an der Grenze campierenden Flüchtlinge beschreiben, lesen sich wie eine Reportage. Während Müller sonst in bilderreicher Sprache schreibt, ist der Stil hier trocken, distanziert, journalistisch.

Die Ich-Perspektive. Am stärksten wird das Fragmentarische in diesem Roman dadurch betont, dass sich mitten im Satz die Perspektive ändert: von der dritten Person im Präteritum zur Ichform im Präsens. Die Absicht ist klar. Das Erzählte wird herangezoomt, unter eine Lupe gestellt. Tatsächlich ist das irritierend, manchmal sogar ärgerlich. Aber so wie wir uns an die Bilder der kleinen Boote in Seenot gewöhnt haben, gewöhnen wir uns auch an die ständigen Unterbrechungen in dieser Geschichte. Wie schnell geht Abstumpfung! ⫻

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