Hirnforschung

Der Lockdown weckt eine Gier nach Kontakten

Ein Experiment zeigt: Auf erzwungene Isolation reagieren Menschen wie bei Hunger – mit dem Drang, den Mangel rasch zu beheben.

„Jeder Kontakt ist einer zu viel“: So wie in Österreich werden in diesem Jahr weltweit Menschen gezwungen, sich in soziale Isolation zurückzuziehen. Das kann man auch als psychologische Feldstudie sehen, die es in diesem Umfang, mit Hunderten Millionen Teilnehmern, noch nie gegeben hat. Was es aus uns macht, lässt nun ein Laborexperiment von US-Hirnforscherinnen rund um Livia Tomova vom MIT erahnen (Nature Neuroscience, 23.11.).

Sie haben 40 Probanden zwischen 18 und 40 Jahren isoliert: Zehn Stunden lang (von 9 bis 19 Uhr) durften sie mit niemandem in Kontakt treten, auch nicht übers Internet, keine Filme sehen und Romane lesen. Am nächsten Tag mussten sie zehn Stunden lang fasten.

Nach beiden kleinen Grausamkeiten zeigte man ihnen Fotos: von ihrem Lieblingsessen, ihren liebsten gemeinschaftlichen Aktivitäten, und – zur Kontrolle – nette Bilder von Blümchen.Dazu scannte man ihre Hirnaktivitäten im Kernspintomografen. Das Ergebnis: Im Motivationszentrum des Mittelhirns feuerten die Neuronen auf den visuellen Reiz hin bei der Isolation in gleicher Weise wie beim Hunger.

Grundbedürfnis wie Essen

Was zeigt, dass Sozialkontakte ein menschliches Grundbedürfnis sind, so wie Essen. Und dass wir bei Entzug unweigerlich danach gieren, uns zu holen, was uns fehlt – was erklärt, wieso Kontaktbeschränkungen so schwer durchzusetzen sind. Die Mechanismen hatte man schon bei Mäusen entdeckt, hier bekommen die korrelierenden subjektiven Erlebnisse einen Namen: Sie fühlten sich einsam, erklärten die Probanden. Und das, obwohl sie – anders als die Mäuse – wussten, dass die Isolation zeitlich begrenzt bleiben würde.

Genauer ist die Reaktion ein Fokussieren auf das, was man uns vorenthält –Essen und Blumen sind uns dann egal, bei den entsprechenden Reizen feuern die Neuronen weniger. Das dürfte aber nur kurzfristig so sein, wie andere Studien zeigen: Wer länger sozial isoliert wird, gibt auf, zieht sich zurück – und kompensiert den Mangel durch Belohnungen anderer Art. Etwa, indem man viel mehr isst. Oder, schlimmer noch: durch Alkohol und andere Drogen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.11.2020)

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