Plattenkritik

AnnenMay­Kantereit: Das Album für die Corona-Gegenwart

(c) AnnenMayKantereit
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Nein, mit den Vorgängern kann „12“, das neue Album der deutschen Band AnnenMayKantereit, nicht mithalten. Aber es hat trotzdem seinen Reiz. Weil es die Gefühle in der Pandemie beschreibt.

Eine Bedienungsanleitung für ihr neues Album lieferte die deutsche Band AnnenMayKantereit gleich mit: „12“, vergangene Woche ohne Vorankündigung erschienen, sei ein „Album aus dem Lockdown“, entstanden „unter Schock“: „Für uns hat es immer drei Teile gehabt – den düsteren Beginn, das Aufatmen danach und die süß-bittere Wahrheit zum Schluss“, schrieb die Band auf ihrer Website. „Wir wünschen uns, dass dieses Album am Stück gehört wird.“

Düster, leichter, bitter: die Selbsteinschätzung der Band trifft durchaus zu. „Ich muss mich zwingen, ein paar Stunden keine Nachrichten zu lesen“, singt Henning May mit seiner außergewöhnlichen, tiefen, rauen Stimme im zweiten Song „Gegenwart“. Er beklagt geschlossene Kinos und Lokale, Tränen fließen. Im darauf folgenden „Gegenwartsbewältigung“ (Songtitel wie aus einem Krisen-Handbuch) kündigt die Klavier-Melodie eine Rückkehr der Heiterkeit an. Auch wenn May singt, „mein Zimmer wird enger“, werden die Tage länger. Man ist in der Krise angekommen, Corona sei „berühmter als der Mauerfall und Jesus zusammen, dabei hat es gerade erst angefangen“. In „Vergangenheit“ denkt die Band über ihre steile Karriere nach: „Ich fühl' mich nicht ausgebrannt“, bekennt May, der AnnenMayKantereit vor zehn Jahren gemeinsam mit Gitarrist Christopher Annen und Schlagzeuger Severin Kantereit gründete. „Der Traum ist immer nur geliehen“, lautet das Resümee. Manchmal sind die Texte knapp an der Plattitüde, es wird zu viel gereimt. Manchmal aber treffen sie ein Gefühl im Kern: „Ich seh' die Möwen, aber wo ist das Meer?“, fragt May in „Warte auf mich (Padaschdi)“. Ein Satz voller Sehnsucht. Nach freudigem Wiedersehen bei Spaziergängen nach dem Lockdown in „Aufgeregt“ folgt in „Die letzte Ballade“ Ernüchterung: „Worüber würde ich singen, wenn es niemanden mehr interessiert?“

„Mal mit dem Handy aufgenommen“

Von all diesen Songs wird „Warte auf mich (Padaschdi)“ wohl am besten altern. „12“ wirkt nicht wie ein Album für die Ewigkeit. Zu unausgegoren, zu unfertig, zu wenig überlegt. Ein Lied bricht in der Mitte ab, Mitreißendes wie „Pocahontas“ (2012) fehlt. Man habe sich gegenseitig Files zugeschickt, erzählte die Band über die Entstehung, „einfach mal mit dem Handy aufgenommen“. Doch „12“ wächst mit jedem Hören. Und ist gerade wegen ihrer Makel die passende Platte zur Gegenwart: Sie spiegelt diesen Schwebezustand in der Pandemie wieder: Das Warten. Das Gefühl, dass das Leben unterbrochen wird, kaum hat es wieder Fahrt aufgenommen. Die Stimmungslagen des Albums – düster, heller, bitter – kennt man von sich selbst. „So, wie es war, wird es nie wieder sein“, heißt es im Song „Zukunft“. Ja, das ist banal und ja, es stimmt. Was aber fehlt, ist die Wut.

(c) Irrsinn Tonträger

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