Die Reformvorschläge der „Presse“

Das Europa-Manifest für das 21. Jahrhundert

(c) MGO (Marin Goleminov)
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Was ist notwendig, um die EU krisenfest zu machen? Was ist im Sinne der Bürger und der Demokratie? Ideen, Ansätze und Lösungsvorschläge zu den vier wichtigsten Zukunftsproblemen der Europäischen Union.

Die Zukunft Europas hat viele Gesichter. Eines davon zeigte sich vor wenigen Tagen, als die Kommission im Auftrag der Unionsmitglieder ein Beschaffungsprogramm zur Bereitstellung von 200 medizinischen Robotern in die Wege leitete. Die kybernetischen Krankenhelfer sollen bei der Bekämpfung der Coronapandemie eingesetzt werden – konkret bei der Desinfektion der Krankenhäuser durch ultraviolettes Licht. Nur 15 Minuten braucht demnach ein Roboter, um ein Krankenzimmer von etwaigen Viren und Keimen zu säubern – eine Erleichterung für das Pflegepersonal, das momentan alle Hände voll zu tun hat, die Ausbreitung der Seuche zu verhindern.

An technologischen Gadgets und futuristischen Ideen mangelt es der EU nicht – sie reichen von den besagten Robotern über Gaia-X, die Daten-Cloud der EU, bis zu den Satellitenprogrammen Copernicus zur Erdbeobachtung (z. B. Klimawandel) und Galileo, das die Abhängigkeit Europas vom GPS-Navigationssystem der USA verringern soll. Wenn es aber darum geht, die Union selbst neu auszurichten, ihre Strukturen fit für das 21. Jahrhundert zu machen und die inhaltlichen Weichen neu zu stellen, wird das Bild diffuser. Die groß angelegte Reformdebatte muss wegen der aktuellen Gesundheitskrise wieder einmal warten, und am Brüsseler Tisch liegt nicht ein fix und fertig geschnürtes Paket, sondern ein Katalog von Optionen.

Das EU-Ressort der „Presse“, das die Debatte um die Zukunft Europas von Anfang an verfolgt hat, wirft hier seine Reformvorschläge in die Schlacht:

Umwelt

Aktuell mögen die Europäer mit akuten Krisen beschäftigt sein, doch mittelfristig sind der Wandel des Klimas und die mit ihm einhergehende Erderwärmung die größte Herausforderung. Um die vereinbarten UN-Weltklimaziele zu erreichen und den Ausstoß des umweltschädigenden CO2 zu reduzieren, ist eine gigantische Anstrengung notwendig. Wie kann Europa die Last stemmen?

Erstens, indem von Anfang an klargestellt wird, dass diese Last auf viele Schultern verteilt wird. Das erfordert auf europäischer Ebene eine konsequente Koppelung der EU-Förderungen an Umweltziele und auf nationaler Ebene die Ökologisierung der Steuersysteme – ohne dabei auf die Verlierer der Globalisierung zu vergessen. Wer etwa (wie Frankreichs Staatschef Macron) bei einer allfälligen Erhöhungen der Kfz- oder Treibstoffsteuern außer Acht lässt, dass viele Menschen abseits der Metropolen auf das Auto angewiesen sind, um ihrer Arbeit nachzukommen, bereitet Populisten den Boden vor.

Als Steuerungselement muss weiters eine CO2-Grenzsteuer eine Rolle spielen. Dabei geht es nicht um Handelsprotektionismus: Wenn die EU den Klimawandel bekämpfen will, dann muss der Zugang zu ihrem Binnenmarkt an ökologische Vorgaben gebunden sein. Ansonsten wäre für Unternehmen der Anlass geschaffen, ihre Produktion aus der EU in Drittländer zu verlegen und anschließend die unter Missachtung der europäischen Umweltvorgaben produzierten Produkte nach Europa zu bringen. Auch das wäre Wasser auf die Mühlen der populistischen Volksverführer.

Wirtschaft und Finanzen

Eine Lehre der Eurokrise war, dass die Verflechtung der EU-Volkswirtschaften gefährlich werden kann, sofern in einem Teil der Union Ungleichgewichte entstehen. Um diese auszutarieren, muss die EU erstens ihre Regeln besser und konsequenter exekutieren, zweitens Puffer einbauen und drittens ihren Finanzmarkt attraktiver machen.

Punkt eins erfordert ein Überdenken der Maastricht-Kriterien – mit dem Ziel, sie besser exekutieren zu können. Denn wenn die EU-Mitglieder angesichts der gegenwärtigen Krisen und künftigen Herausforderungen dazu übergehen, immer mehr finanzielle Lasten gemeinsam zu schultern, dann kann das nur gut gehen, wenn jeder Mitgliedstaat die Gewissheit hat, dass alle ihren Beitrag leisten – und nicht bloß von der Bonität der anderen profitieren wollen.

Bei Punkt zwei geht es primär um die lang versprochene Vollendung der Bankenunion, die das Bankensystem der Eurozone stabilisieren wird. Ebenfalls wichtig: Die diversen Kriseninstrumente der EU (wie Euro-Rettungsschirm ESM oder Corona-Hilfsfonds) müssen institutionalisiert werden – was mehr autonome Einnahmequellen für die EU erfordert. Die nun emittierten Corona-Anleihen werden drittens dabei helfen, einen tiefen, liquiden EU-Finanzmarkt zu schaffen. Denn im Gegensatz zu den USA sind Firmen in der EU stark auf Bankfinanzierung angewiesen. In heiklen Situationen lähmt diese Abhängigkeit die Wirtschaft und macht Rezessionen schlimmer. Die geradezu euphorische Reaktion internationaler Investoren auf die ersten Covid-Bonds hat gezeigt, dass ein Umdenken überfällig ist.

Sicherheit

Es gibt einen Faktor, der Bürger und Bürgerinnen der EU seit Jahren emotional bewegt: das Gefühl der Unsicherheit. Sei es durch Terroranschläge, Kriege in der Nachbarschaft oder durch interne politische Spannungen. Soll die EU den Zusammenhalt der europäischen Gesellschaft stärken, müssen die Mitgliedstaaten in allen diesen Politikfeldern noch stärker als in der Vergangenheit an einem Strang ziehen. Das bedeutet einerseits ein Bekenntnis zu einer engen Kooperation von Polizei, Justiz, Militär und Geheimdiensten. Es wird notwendig werden, Daten und Ermittlungsergebnisse permanent auszutauschen und gemeinsame Spezialeinheiten zu gründen, um solidarisch Hilfe zu leisten.

Es bedeutet andererseits, dass jeder EU-Bürger das Vertrauen gewinnen muss, dass er, gestützt auf Eigenverantwortung, ein System vorfindet, dass ihn auf faire Weise beschützt. Selbst wenn sich einzelne EU-Regierungen aktuell dagegen sträuben, ist diese Zusammenarbeit nur auf Basis einer kontrollierten Rechtsstaatlichkeit möglich. Wird die EU zu einem riesigen Polizeistaat, der ohne Kontrolle gegen Terroristen, Kriminelle und andere Gesetzesbrecher vorgeht, leistet sie der Entwicklung autoritärer und letztlich korrupter Staatssysteme Vorschub. Notwendig sind eine stärkere Kompetenz des EU-Höchstgerichts in diesem Sektor und demokratische Sanktionsmöglichkeiten des Europaparlaments. Die EU-Regierungen sind – siehe die aktuelle Lage mit Ungarn und Polen – nicht geeignet, sich gegenseitig zu kontrollieren.

Diese demokratisch kontrollierte Sicherheitspolitik ist auch in militärischer Hinsicht für Europa der einzig plausible Weg. Die EU braucht eine enge Zusammenarbeit im Verteidigungssektor, der bis hin zu gemeinsamen Einheiten geht. Angesichts der Neudefinition der US-Sicherheitspolitik wird die EU nicht umhinkommen, ihre eigenen Kapazitäten zu verstärken, um nicht zum Spielball fremder Mächte zu werden. Um allerdings eine militärische Eigendynamik zu verhindern, könnte dem Europaparlament ein Veto gegen die Fortsetzung von Einsätzen eingeräumt werden. Das Europaparlament hat hier den Vorteil, dass es über einzelstaatliche Interessen erhaben ist.

Migration

Will die EU künftige Migrationskrisen vermeiden, muss sie neben dem Asyl streng kontrollierte legale Wege der Zuwanderung schaffen, die für Drittstaatsangehörige glaubwürdig sind. Derzeit hat nämlich ein Zuwanderungswilliger keine andere Option, als über von Schleppern organisierte Wege illegal in die EU zu gelangen. Nur so kann er auf dem Boden eines EU-Staats einen Asylantrag stellen, der aktuell wenig Chancen auf eine positive Erledigung hat. Dieses System hat sich in mehrfacher Hinsicht als kontraproduktiv erwiesen und zu humanitären Katastrophen an den Außengrenzen beigetragen. Um diese Form des Migrationsdrucks abzubauen, muss möglich gemacht werden, außerhalb der EU einen Antrag auf Asyl oder auf eine andere Form der legalen Einwanderung zu stellen. In beiden Fällen sollte die Aufnahme an strenge Regeln, Widerrufsmöglichkeiten und Integrationsauflagen gebunden werden.

Ist diese Basis geschaffen, kann die illegale Zuwanderung durch einen gemeinsamen Grenzschutz an den Außengrenzen eingedämmt werden. Er würde deutlich weniger als bisher Gefahr laufen, internationales Recht und Menschenrechte zu verletzen.

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