Eine Kreuzung – wie diese in Wien Hernals – kann vieles sein. Ein Ort der täglichen Begegnung, aber auch ein Ort des Verlustes.
Fokus auf
Leben

Wendepunkte - oder: Drei besondere Geschichten

Es gibt Orte, die einen Richtungswechsel markieren, die für Abschiede stehen, für eine Veränderung der Perspektive. Ein kleines Dossier zu „Meilensteinen“ der besonderen Art.

Die Filmemacherin Barbara Kaufmann hat sich mit ihrer Kamera auf die Suche nach solchen Orten gemacht und sie als Schauplätze für vier Kurzgeschichten für die „Presse am Sonntag“ ausgewählt. Es sind Geschichten über Menschen, die an jenen Orten einen Verlust erlebt haben. „Grenzpunkt. Wendepunkt“ ist die kurze Serie benannt und widmet sich in ihrer ersten Geschichte einem Ort, den wohl jeder täglich mehrfach überquert: der Kreuzung.

Sie stand an der Kreuzung und beobachtete die Autos. Sie stauten sich bis zur schmalen Nebengasse, in der sie wohnte. Sie spiegelten sich in den Auslagen der Geschäfte. In den Lichtkegeln ihrer Scheinwerfer tanzte der Regen im Wind.

Und wenn sich die Kolonne in Bewegung setzte und eines der Autos abbog, blendete sie das Licht. Dann schloss sie die Augen.
Im Badezimmer ihrer Wohnung flackerte die Neonröhre. Sie hätte sie längst wechseln können. Sie aus der Fassung schrauben. Die Wattzahl notieren. Eine neue kaufen. Sie hätte die Nachbarin bitten können, ihr bei der Montage zu helfen. Sie hätte gern etwas für sie getan. Alle im Stock boten unaufhörlich ihre Hilfe an. Alle waren enttäuscht, dass sie nicht angenommen wurde. Sie wollten ihr die Einkäufe abnehmen. Sie hielt sie fest an sich gepresst. Sie trugen ihr Rad aus dem Keller. Sie ging zu Fuß. Sie hielten ihr die Lifttür auf. Sie nahm die Treppe.

Der Wind wehte die Tropfen in ihr Gesicht. Sie ließ es geschehen. Sie hob ihr Kinn. Sie wollte noch nicht gehen.

Nach Lebensabschnitten geordnet. Sie lehnte mit dem Rücken an der Auslage des Blumengeschäfts. Die Blumen auf den Regalen waren nach Lebensabschnitten geordnet. Nelken, Rosen, Chrysanthemen. Das Geschäft war längst geschlossen, doch im Inneren brannte noch Licht. Montags kam die neue Lieferung. Montags waren die weißen Lilien am billigsten. Kein Montag war vergangen, ohne dass er einen Strauß mitgebracht hatte. Jetzt konnte sie ihren Geruch nicht mehr ertragen. Sie rochen nach Mitleid, verlegenen Blicken und feuchten Händen bei der Übergabe.

Die Blumenverkäuferin war ihre erste Freundin in der Straße gewesen. Sie hatte alles mitangesehen an jenem Tag. Nun war sie es nicht mehr. Sie spürte, dass die Blumenverkäuferin sie beobachtete. Sie drehte sich nicht um.

Früher hatte sie die Nachmittage und Abende bei ihr im Geschäft verbracht. Abwechselnd bei ihr und den anderen an der Kreuzung. Beim Bäcker mit den schlechten Augen, den Zwillingen des Dönerladenbesitzers, der Trafikantin mit dem neurotischen Dobermann. Sie war wieder das Mädchen gewesen, das draußen vor dem Haus ihrer Freundinnen gewartet hatte, bis man sie hereingebeten hatte. Und dann nicht mehr gehen wollte.

Sie war schon als Kind unter dem Tisch gesessen, geduldig, unauffällig, leise und hatte die Fäden eingesammelt, die ihre Mutter beim Nähen verloren hatte. Alles aufgerollt, wenn sie die Arbeit erledigt hatte. Sie ins Bett gebracht. Die leeren Flaschen weggeräumt, die ihrer Mutter am nächsten Morgen von ihrer Einsamkeit erzählt hätten. Nur selten hatte sie es gewagt, von ihrer Seite zu weichen. Mit den Kindern im Hof zu spielen. Sie allein in der Wohnung zu lassen. Dann hatte sie die Mutter am Fenster stehen sehen, wenn sie nach oben geblickt hatte. Erst als die Mutter ins Krankenhaus gekommen war und klar war, sie würde nie wieder am Fenster stehen können, zu ihr nach unten sehen, ihr winken und auf sie warten, hatte sie die Wohnung weggegeben. Sie war in die Nebengasse der Kreuzung gezogen. Und in das Blumengeschäft, die Trafik, den Dönerladen. Das Knopfgeschäft, vor dem sich nun die Schüler zum Rauchen trafen.
Sie hatte ausgeholfen, wenn man sie darum gebeten hatte. Und auch, wenn man sie nicht darum gebeten hatte.

Einzimmerwohnung. Doch nun wollte sie allein leben. Ihre Trauer war eine Einzimmerwohnung. Sie hatte es sich gut eingerichtet in ihr. Nichts darin erinnerte mehr an ihre Mutter, nichts an die Blumenverkäuferin, die Trafikantin, die Zwillinge des Dönerladenbesitzers, nichts an ihn.
Nur der Regen und die Scheinwerfer der Autos brachten alles zurück. Das Knarren der Kupplung, das Ticken des Blinkers, das Auto, das gegen die Einbahn fuhr. Sein Lachen, ihr Schrei, der Knall. Sitzen zwei Tauben auf dem Dach, fliegt eine fort.

Manchmal, wenn sie am Heimweg etwas beobachtete, das ihr nicht aus dem Kopf ging, wenn sie an das rote Boot in der Bucht in Italien denken musste, wenn ihr eine Zeile aus einem alten Song einfiel, dann drehte sie sich abends im Bett noch zu seiner Seite, um es ihm zu erzählen.

Es war dunkel geworden. Das Licht im Inneren des Blumengeschäfts war erloschen. Die Blumen auf den Regalen hinter ihr waren nach Lebensabschnitten geordnet. Nelken, Rosen, Chrysanthemen.

Sie machte sich auf den Weg in die Nebengasse der Kreuzung. Sie betrachtete die Fassaden der Wohnblöcke, die einen neuen Anstrich vertragen könnten. Sie überraschte ein Liebespaar in einem Hauseingang, das sich eilig voneinander löste. Sie beobachtete einen Mann, der den Müll zu den Tonnen brachte. Wie er den Kragen seiner Jacke hochzog, um sich gegen den Regen zu schützen. Wie der schwere Sack seine rechte Körperhälfte nach unten zog. Wie er unter dem Gewicht schwankte.

Sie ließ sich Zeit. Sie ging langsamer, seit niemand mehr auf sie wartete.

Blaues Licht. Sie schloss die Haustür auf. Sie ging am Lift vorbei und nahm die Treppe. Das Wasser tropfte aus ihren Haaren auf den Steinboden. Sie öffnete die Wohnungstür. Sie ließ sie ins Schloss fallen. Sie sperrte nicht ab.

Sie ging ins Badezimmer. Sie zog ihre Jeans aus. Sie war nass und dunkelblau. Sie dachte an seine Hose und daran, wie sein Blut den blauen Stoff lila gefärbt hatte. Sie dachte an das blaue Licht des Einsatzwagens auf seinem fahlen Gesicht. Sie dachte daran, wie sein Herz zu schlagen aufgehört hatte. Sie schloss die Augen.
Über ihr flackerte die Neonröhre. ⫻


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