Kulturerleben

Die Europäer und ihre Welt von gestern

Im 19. Jahrhundert war der Boom des Kulturlebens in Europa einzigartig. Eine kosmopolitische Elite nützte das neue Eisenbahnnetz und reiste zu den Kulturtempeln anderer Staaten. Es entstand der heute noch existierende Kanon der Kunst.

Am Ende des 19. Jahrhunderts wurden überall auf dem europäischen Kontinent dieselben Bücher gelesen, man kannte dieselben Gemälde, spielte und hörte dieselbe Musik, alle bedeutenden Theater brachten dasselbe Opernrepertoire. Petersburger Opernfans jubelten einer französischen Sängerin zu, Paris bewunderte Inszenierungen der Mailänder Scala. Offenbar war ein Kanon europäischer Hochkultur entstanden, er gilt noch heute, er reicht von Bizets „Carmen“ zu den Bildern von Claude Monet, von den Opern Rossinis bis zu den Romanen Dostojewskis. Man kennt diese Kunstwerke einfach.

Diese Betrachtung der gesamteuropäischen Kultur liefert uns ein Bild der Globalisierung von Kunst über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg, zeigt einen permanenten Austausch von Kunstwerken und Ideen, die zwischen den Völkern zirkulierten. In diesem Europa fühlte sich die Kulturelite heimisch, die europäische Zivilisation fand ihr Zuhause, man denkt an Edmund Burkes berühmten Ausspruch, dass kein Europäer in irgendeinem Teil Europas ganz und gar im Exil lebe.

Wie entstand dieser gemeinsame europäische Kulturraum? Der angesehene britische Historiker Orlando Figes hat dieser kosmopolitischen Geschichte des Kontinents sein neues Werk gewidmet. Das Material, das seine Thesen untermauert, ist ungeheuer weit gestreut, jede Seite liefert neue Einsichten. Am Beginn stand für ihn das Zeitalter der Eisenbahn. Sie hat die kulturelle Landkarte Europas neu gestaltet. Das Tempo des Streckenbaus war ab 1850 verblüffend. Von Frankreich aus etwa breiteten sich die Linien im Süden nach Madrid und Rom aus, im Norden nach Kopenhagen und Stockholm, im Osten nach Moskau und Sankt Petersburg. Dieses rasch wachsende Netz war der Motor des Fortschritts, bereits Goethe und später Victor Hugo sahen es als einigende Kraft, die zu einer globalen Kultur führen würde.

Verkehrsrevolution. Die Eisenbahnlinien überschritten Grenzen, verbanden die Menschen verschiedener Staaten und ermöglichten ihnen, in einem supranationalen Raum zu zirkulieren und Neues aufzunehmen. Doch auch das Tempo, mit dem neue Werke nun die Grenzen überschritten, war phänomenal. Ein Vaudeville-Stück, das in Paris im Herbst 1843 Premiere hatte, wurde vier Monate später in einer adaptierten Version von Johann Nestroy in Wien auf die Bühne gebracht. Als Johann Strauß 1838 in England gastierte, pendelte er mit dem Zug zwischen 30 Städten. Endlich war die Beförderung der schweren Kisten mit Instrumenten und Notenblättern mithilfe der Pferdekutschen vorbei.

Ein zweiter Kern des Buchs ist die neue Beziehung, die sich zwischen den Künsten und dem Kapitalismus entwickelte. Vorbei die Zeit, in der Adel und Subventionen für die Finanzierung sorgten. Der Markt war nun die wirtschaftliche Basis von Literatur, Musik und Malerei, er bestimmte, welche Werke überleben und welche verloren gehen würden. Ging eine neue Oper nicht auf Tournee, war kein Gewinn zu machen, auch musste sie dem Publikumsgeschmack im Ausland entsprechen. Figes schreibt: „Im letzten Viertel des Jahrhunderts hatten Besucher von Paris wahrscheinlich die gleiche Auswahl an Opern wie in London, Mailand, Neapel, Madrid, Berlin, Wien oder Petersburg.“

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