Terra incognita

James Cook als Stadtstrawanzer

Ohne Stadtplan und Ziel durch Wien: Raus aus den gängigen Wahrnehmungsmustern der Stadt. Rein in die Terra incognita.

Als hätten dem Menschen die vielen Gangarten, die er beherrscht, noch nicht gereicht: Das Schlendern, das Flanieren, das Spazieren, das Marschieren, das Wandern und all die anderen. Er musste sich ja unbedingt noch viel schnellere Mittel der Fortbewegung erfinden. Die Konsequenz: Man verbindet sich mit der Ferne, doch isoliert sich von der Nähe. Dabei sind die menschlichen Sinne – und die mittelalterlichen Städte waren es auch – ohnehin kalibriert auf nur eine Richtgeschwindigkeit: Jene, mit der man normalerweise Landschaften durchstreift. Mehr als vier oder fünf Kilometer schafft man dabei kaum in der Stunde. Dafür dürfen sich im Schritttempo die Eindrücke gemächlich summieren, zu einem Gesamtrauschen, das noch lang nachflüstert, selbst wenn man längst wieder zuhause ist.

Das Auto hat die Menschen abgetrennt von der Stadt, in der sie leben. Das Gehen, die Diktion der 10.000 Schritte pro Tag, der Schrittzähler, der sie dokumentiert, und der Corona-Lockdown bringen sie ihm wieder näher. „Die Atmosphäre, Energie und Dynamik einer Stadt kann ich nicht erfassen, wenn ich mit dem Auto herumfahre“, schreibt der irische Neurowissenschaftler Shane O’Mara in seinem Buch „Das Glück des Gehens“. Und das größte Glück für die urbanen Geher dürfte sein, wenn die Städte überhaupt für Schritttempo angelegt wurden. Weil es damals die einzig verfügbare Geschwindigkeit war. Die schmalen Gasserln von Dubrovnik, die weit geschwungenen, sanft ansteigenden Kurven von Siena, das Wegelabyrinth von Venedig, in ihnen verlieren sich die Beine der Touristen am liebsten. Und genau für diese Art von Mustern und Wegnetzen hätte man vielleicht sogar heuer wieder seine Trolleykoffer gepackt. Nur um sie über das Pflaster von Straßen rattern zu lassen, die einen beinahe so ins Abenteuer locken wie ein geschwungener Weg in einem mystischen Wald. Kerosin verbrennen hat in diesem Jahr Pause. Das Kalorienverbrennen in der eigenen Stadt, das hat längst begonnen: Indem man abzweigt von den Wegroutinen.

»Die Gerade frustiert. Die Kurve belohnt: mit neuen Eindrücken.«

Beim Gehen keinem Ziel folgt außer einem: Sich locken, treiben, verführen zu lassen von den Räumen, die die Häuser der Stadt zwischen sich aufspannen. Für Urbanisten wäre das „Dérive“ durchaus eine Methode der Erkenntnisfindung. Für alle anderen Menschen, die Städte normalerweise eher benutzen als erleben, eine neue Form der Wahrnehmung. Schweifen triggert Schweifen: Man selbst zweigt dorthin ab, wo man noch nie war, die Gedanken folgen.

Charles Baudelaire hat den Flaneur als literarische Figur erfunden. Walter Benjamin hat ihn für sich und die Stimulusdichte der Großstadt adaptiert, auch um einzutauchen in einen ganz besonders elektrisierenden Zustand: Wenn sich Tausende Eigenschaften und Bedingungen gleichzeitig reiben – in der Masse auf der Straße. Keine wirklich coronaadäquate Form der Stadtbegegnung. Dafür: Auch wenn sie manchmal nicht breiter sind als zwei Meter – so breit werden sich die Gehsteige erst wieder bei der nächsten Pandemie anfühlen. Denn Konsum, Nagelstudio, Arbeit und Wirtshaus, die meisten „Ich muss dringend wohin“-Gehmotive sind auf Stand-by geschaltet. Straße frei für den Geher, der geht, um zu gehen. Und dabei vielleicht auch die Richtung der Augen einmal abweichen lässt von der Norm. Die Evolution wollte uns ja unbedingt nach vorn schauen lassen. Der Flaneur hätte die Augen vielleicht auch gern auf der Seite, oder oben. Oder rundherum.

Norbert Philipp


Folge der Kurve. Also: Die Stadtpläne von Dubrovnik und Siena einpacken und sich ein bisschen verirren gehen – auf nach Wien zum Beispiel. Und dorthin, wo die Kurven sind. Ein Feind des Gehers ist die „Tiring Length Perspective“, ein wahrnehmungspsychologisches Phänomen. Zieht sich die Gerade über den Horizont hinaus, scheinen die Beine schon bald schwer zu werden. In Kurven geht man dafür stets auf verheißungsvollere Dinge zu als auf die Unendlichkeit. Sie locken wie halb geöffnete Schatztruhen. Stadtstrawanzer suchen sie wie das Wasser. Denn wo dieses liegt, ist auch die Krümmung zuhause – außer das Wasser wurde begradigt wie die Donau. Einer, der planerisch mitbeteiligt war, dass man in Wien überhaupt in manchen Bezirken in Ruhe flanieren kann, war auch ein Strawanzer, wie er erzählt: Der Verkehrsplaner Hermann Knoflacher. Der Kärntner kam in Wien in einer Kurve an. Die Als hatte sie in die Landschaft gelegt: Es war die Lazarettgasse im neunten Bezirk. In den 1950er-Jahren waren die Straßen Wiens weniger Adern, in denen es pulsierte, sondern eher riesige Spielplätze, auf denen statt Autos die Fußbälle rollten, berichtet Knoflacher im Buch „Die Adern Wiens“. Und heute sind die Straßen noch immer Spielplatz: für die Gedanken. Der Musiker Oskar Aichinger macht sich seine am liebsten ebenso im Gehen. Und schreibt inzwischen auch gern darüber. Inzwischen lässt er in seinem zweiten Buch seinen Beinen und Gedanken wieder freien Lauf: „Fast hätt ich die Stadt verlassen“ führt ihn, der Name verrät’s, an die Peripherie. Und wer bringt ihn in Wien – außer der Neugierde – dorthin? Natürlich die Straßenbahn, vulgo: die Bim. Der typische Flanier-Zubringerdienst der Wiener. Aichinger nimmt etwa den 31er vom Schottentor nach Stammersdorf. Die Linie schleust ihn so durch Straßen, mit denen es der Wandel ästhetisch nicht ganz so gut gemeint hat: die Brünnerstraße etwa. Umso atmosphärisch verwöhnter ist dann die Stammersdorfer Kellergasse. Auch noch ein Stück ganz unerwartetes Wien. Ein anderes Mal nimmt er den 60er nach Südwesten, in eine andere Weltgegend der Stadt. Nach Mauer in den 23. Bezirk, zur Trutzburg des Architektur-Brutalismus in Wien, der Wotrubakirche, die am Rand von Wald und Weinbergen die Stellung hält. Am Weg dorthin liegen viele Kurven, die selbst einige Jahrhunderte lang die Peripherie waren. Wie die Äußere Mariahilfer Straße, der bevorzugte Weg des Kaisers aus der Stadt hinaus, nach Schönbrunn.

Entdeckungsreisen. Die Autorin Ilse König empfiehlt in ihrem Buch „Wien für Fortgeschrittene“ den D-Wagen als Vehikel des Flaneurs. Auf elf Kilometern quer duch Wien hat der Strawanzer 32  Möglichkeiten, also Haltestellen, um sich neu zu verlieren. Auch die schönste Kurve Wiens liegt auf der Route, die Porzellangasse im neunten Bezirk. Der Schriftsteller Alfred Komarek wohnt dort. Und auch er lässt sich regelmäßg darauf ein, sich vom D-Wagen irgendwohin bringen zu lassen: Hauptsache, er war noch nie dort.

Christian Fürthner
Christian Fürthner

Jedenfalls: Bewegt man sich mit der Straßenbahn auf etwas zu, oder gar zu Fuß, bekommt auch die Destination gleich eine ganz andere ästhetische Qualität. Davon war auch der Erfinder der Promenadologie (oder: der Spaziergangswissenschaft), Lucius Burckhardt, überzeugt. Er meinte, dass man in Großstädten inzwischen an manche Orte gelangt, als sei man ein Fallschirmspringer. In der Stadt allerdings meistens von unten statt von oben: Wenn man U-Bahn fährt. Was für ein Verlust. Denn Erlebnis und Ästhetik eines Ortes beginnen für Burckhardt bereits auf dem Weg dorthin. Er beeinflusst die Wahrnehmung. Als das Eisenbahnzeitalter einrauschte, war der Weg plötzlich auch so wichtig wie das Ziel. Zu Fuß dagegen kann man auch auf den gängigsten Wegen die nächste Nähe neu entdecken. Als wäre man James Cook im Pazifik. Genau dorthin hat Burckhardt schon in den 1970er-Jahren seine Studierenden mitgenommen, auf die „Fahrt nach Tahiti“, allerdings im Naturschutzgebiet der Kasseler Dönche. Dabei hat er beim Spazierengehen Texte aus Georg Forsters „Reise um die Welt“ vorgelesen. Ein Abenteuer kann auch jedenfalls der kurze Spaziergang rund ums Haus sein, wenn man ihn dazu geraten lässt. Und irgendeine Abzweigung, die ins Ungewisse führt, liegt auch bestimmt auf dem Weg.

Beigestellt

Tipp

„Wien für Fortgeschrittene“. Autorin Ilse König gibt Anleitungen und Tipps für jene, die meinen, Wien schon ausgiebigst durchstreift zu haben. Erschienen im Styria Buchverlag.

„Fast hätt ich die Stadt verlassen“. Oskar Aichinger lässt Beine und Gedanken schweifen. Bis an den Stadtrand und beinahe darüber hinaus. Erschienen im Picus Verlag.

„Das Glück des ­Gehens“. Das Strawanzen in der Stadt kann man natürlich auch wissenschaftlich betrachten. Wie auch das Gehen überhaupt. Von Shane O’ Mara. Im Rowohlt Verlag. 

„Die Adern Wiens“. Erkundungen und Erkenntnisse von der Josefstädter- bis zur Höhenstraße von „Presse“-Redakteur Norbert Philipp, der auch den vorangehenden Text verfasste. Braumüller. 

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.