Die Ich-Pleite

Der Verzicht auf lieb gewordene Gewohnheiten

Carolina Frank
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Auch auf meinen Chef muss ich verzichten. Fast hätten die abendlichen Trostachtln ja schon ihren Sinn verloren.

Wenn wir uns jetzt alle zusammenreißen, ist der Lockdown bald überstanden, sag ich mir. Jeder muss auf lieb gewordene Gewohnheiten verzichten. Ich zum Beispiel verzichte darauf, meine Freundinnen live zu sehen. Glücklicherweise gibt es digitale Alternativen. Aber die haben auch ihre Tücken. Bei mir fällt oft mitten in der spannendsten Geschichte das Internet aus. Zum Beispiel, wenn mir eine Freundin erzählt, dass der Mann ihrer Kollegin, die ich nicht kenne, einen Chef hat, den ich nicht kenne, der eine Frau hat, die ich nicht kenne, die eine Nachbarin hat, die ich nicht kenne, die eine Kosmetikerin hat, die ich nicht kenne, genau dieselben Kopfschmerzen hat wie sie.

Ich verzichte aber auch auf meine Bürokolleginnen und -kollegen. Besonders leid tut es mir um das gemütliche Zusammensitzen bei offenem Fenster, mit Schutzmaske und Abstand. Und um das schöne Gefühl des geteilten Leids, wenn wir in unseren Mittagspausen von einem Meeting zum anderen hetzen. Jetzt esse ich allein daheim und habe kein Leid mehr, das ich teilen könnte. Das liegt allerdings ein bisschen daran, dass ich auch auf meinen Chef verzichten muss. Ohne ihn tut sich sogar mein Novemberblues schwer, voll auszubrechen. Fast hätten die abendlichen Trostachtln ihren Sinn verloren. Aber dann hat er neulich verlangt, dass er bei jedem E-Mail, das ich jemandem schreibe, in cc gesetzt wird. Dadurch muss ich wenigstens nicht auf seine guten Tipps verzichten. Alles in allem ist der Lockdown so entbehrungsreich, dass man fast Bedenken haben müsste, den November seelisch unbeschadet zu überstehen. Nur die Aussicht auf die vielen Weihnachtseinkäufe, mit denen wir ab dem 7. Dezember unsere  Handelsunternehmen unterstützen können, hält einen  aufrecht.

("Die Presse - Schaufenster", Print-Ausgabe, 27. 11. 2020)

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