Linda Polman: "Hilfe ist ein ganz normales Geschäft"

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Die Autorin Linda Polman will NGOs stärker zur Rechenschaft ziehen.

In „Die Mitleidsindustrie“ kritisieren Sie, dass Gelder von NGOs in Staatskassen versickern, im schlimmsten Fall helfen Hilfsorganisationen sogar bei der Finanzierung von Konflikten. Sind NGOs also naiv?

Linda Polman: Wenn ein großer Einsatz beginnt, dann können NGOs Probleme haben, die richtigen Leute zu finden. Es gibt Mitarbeiter, die nach Afrika gehen und nie zuvor dort waren. Viele von ihnen sind jung und naiv.

Ist es tatsächlich nur ein Personalproblem?

Nein. Die andere Geschichte ist das System: Hilfsorganisationen funktionieren auf einem Markt, auf dem sie um ihr eigenes Überleben kämpfen müssen. Und selbst wenn NGOs verstehen, dass sie in einem unmoralischen System stecken, ist es sehr schwer für sie zu sagen: Wir hören auf. Denn sie wissen, dass die Konkurrenz ihren Platz einnehmen wird.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass auch die Verweigerung von Hilfe eine Strategie sein könnte.

Wir stecken in einem Dilemma, auch aktuell in Pakistan. Das Land ertrinkt im Wasser, gleichzeitig wissen wir, dass die Armee Hilfsgelder manipuliert. Aber wir sind selbst für unser Geld verantwortlich. Es ist unsere Spende von zehn Euro, unser Steuergeld. Also müssen wir uns damit befassen. Wir sollten analysieren, wie viel Geld in die Kriegswirtschaft abgezweigt wird, um dann zu sagen: Das ist noch vertretbar – oder eben nicht mehr. Aber wir müssen uns mit diesem Dilemma beschäftigen, schließlich arbeiten wir im Interesse der Menschen dort. Mitunter muss man Nein sagen können. Derzeit gibt es über 60 bewaffnete Konflikte und Kriege weltweit, und nur einer Handvoll dieser Länder bieten wir Hilfe an. Wenn man hier Nein sagt, kann man anderswo Menschen retten – in einem Gebiet, wo man seine Mittel besser kontrollieren kann.

Ein Problem der Hilfsindustrie ist doch auch, dass NGOs sich vor niemandem verantworten müssen.

Die Hilfsorganisationen beschweren sich, dass sie andauernd Rechenschaftsberichte verfassen müssen! Aber sie schreiben diese Berichte für sich selbst. Es ist die Welt der Helfer, die sich da selbst kontrolliert. Wir, die Bürger, haben keine Möglichkeit zu überprüfen, ob die NGOs ihre Arbeit gut oder schlecht gemacht haben. Und erst die Betroffenen – wo können sie sich beschweren? Es gibt keine Stelle, der sie sagen können: Die Hilfsgelder werden nicht für uns verwendet oder nicht in unserem besten Interesse verwendet.

Wer könnte denn die NGOs kontrollieren?

Es mag sein, dass ich wie ein alter Hippie klinge: Wir haben noch immer die Vereinten Nationen. Und die wären für so eine Aufgabe geeignet.

Sie kritisieren auch Journalisten, die – wie heutzutage üblich – mit NGOs „embedded“ im Feld sind. Wo liegt das Problem?

Ich kenne kaum Journalisten, die über das Thema „Hilfsindustrie“ berichten. Journalisten betrachten Hilfseinsätze wie alle anderen Menschen auch: als humanitäres Thema, die armen Opfer im Mittelpunkt. Sie haben nicht gelernt, hinter die Kulissen zu blicken: Woher, warum kommt das Geld? Hilfe ist ein ganz normales Business. Journalisten sollten dieses Geschäft ernst nehmen, denn es sind ernst zu nehmende Geldströme, und die Auswirkungen von Hilfsgeldern auf Konflikte sind beträchtlich.

Waren Sie einmal „embedded“ unterwegs?

Nein, nie. Ich war an vielen Orten, wo es Hilfseinsätze gab, aber ich habe nie die Einladung einer NGO akzeptiert. Mittlerweile gilt man ja als Freak, wenn man eine solche ausschlägt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.08.2010)

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