Die Ich-Pleite

Laufen im Lockdown

Carolina Frank
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Ich werde endlich mit dem Laufen anfangen. Ich warte nur noch, bis der Lockdown vorbei ist.

Der Lockdown verstärkt die Extreme. Die Dicken werden dicker und die Dünnen dünner. Ich habe keine Zahlen. Aber ich wohne am Augarten und kann daher die Anzahl der Läufer ganz genau überprüfen. Es waren noch nie so viele. Ich wusste gar nicht, dass es in meiner Umgebung so eine Menge dünner Menschen gibt. Den Lockdown scheinen sie zu nützen, um endlich die überflüssigen zwei Deka von den Hüften zu bekommen. Obwohl sie sich dazu ein bisschen zusammendrängen müssen, weil der Burghauptmann im Lockdown auch das Ambrosi-Areal gedownlockt hat. Man könnte es Schikane nennen.

Wenn man sich die Läuferinnen so ansieht, fällt einem das Experiment aus den 1960er-Jahren ein, bei dem vierjährigen Kindern Marshmallows angeboten wurden. Diejenigen, die zehn Minuten warten konnten, bekamen zur Belohnung zwei Marshmallows statt gleich eines. 30 Jahre später waren sie Bundeskanzler, haben irgendwo im Kulturbetrieb Karriere gemacht oder waren CEO eines internationalen Großkonzerns. Und jetzt verteilen sie Marshmallows in Form von Handys, Autos oder Billigklamotten an jene, die damals nicht warten konnten.

Die Bedürfnisaufschiebung, sagen Psychologen, ist eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg. Undisziplinierte Kleinkinder nuckeln 30 Jahre später immer noch an dem einen Marshmallow herum. Okay, vielleicht sind sie inzwischen zu handgeschöpfter Designerschokolade übergegangen. Aber sie greifen immer noch lieber zum endorphinsteigernden Mittel, das man nur in den Mund zu stecken braucht, statt zu dem, bei dem man sich Laufschuhe anziehen müsste. Selbstdisziplin kann man aber lernen. Ich werde endlich mit dem Laufen anfangen. Ich warte nur noch, bis der Lockdown vorbei ist.

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