Geschichte wird um interpretiert, um eine augenblickliche Stimmung zu stärken. Ein Bild aus Wien.

Schlagwort Querdenker: Über Macht und Missbrauch der Geschichte

Wieso müssen dieser Corona-Tage ständig NS-Vergleiche bemüht werden, sobald sich jemand ungerecht behandelt fühlt? Was ist das für eine Gesellschaft, in der eine Elfjährige, nur weil sie nicht Party machen kann, sich mit Anne Frank vergleicht? Vom Fortleben des Vergangenen.

Die Vergangenheit hat „Anspruch“, schreibt Walter Benjamin 1940 in seinem kleinen Aufsatz „Über den Begriff der Geschichte“. Denn Geschichte wirkt immer nach, davon bleiben auch wir, die wir für uns die Gnade der späten Geburt in Anspruch nehmen dürfen, nicht unberührt. „Streift denn nicht uns selber“, fragt Benjamin, „ein Hauch der Luft, die um die Früheren gewesen ist? Ist nicht in Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun Verstummten?“ Was hören wir da, wenn wir genau hinhören, und was sehen wir? Manchmal tritt das Unsichtbare wieder schnell zutage, wenn man um das Geschehene weiß; es liegt ja meist ganz nah unter der Oberfläche.

Vor Jahren habe ich von einem Grabstein auf dem alten Friedhof in Amstetten geschrieben, der einmal ein jüdischer Grabstein war und der nach seiner „Arisierung“ einfach umgedreht wurde: Auf der Rückseite, die früher seine Vorderseite war, sieht man genau die kreisrunde Stelle, wo der Davidstern herausgemeißelt wurde. So wurde das Ursprüngliche ausgelöscht, aber die Geschichte, wenn auch unsichtbar, lebt dennoch fort. Sie hat ihren Anspruch bewahrt, und der Stein trägt sie bis heute in sich.

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