Culture Clash

Kein Freibrief für die Sterbehilfe?

Dass sie nur manche Beihilfe zum Suizid erlauben, wirkt wie ein umsichtiges Urteil der Verfassungsrichter. In Wirklichkeit ist das der Ausgangspunkt für sehr viel mehr.

Der Verfassungsgerichtshof habe „keinen Freibrief für die Sterbehilfe“ ausgestellt, meint der Ethiker Ulrich Körtner auf orf.at. Nach viel Realitätssinn klingt das nicht. Die Höchstrichter haben am Freitag zwar nur das Verbot der Beihilfe zum Suizid aufgehoben – und nicht auch die Tötung auf Verlangen und die Verleitung zum Suizid erlaubt. Aber die Erfahrungen in den Vorreiterstaaten – wo heute recht freimütig Alte und Kinder, Kranke und Gesunde, Zurechnungsfähige und Unzurechnungsfähige Gift bekommen – legen nahe, dass das trotzdem schrittweise kommt. Die Schlüsse, die der VfGH gezogen hat, um zu seinem Erkenntnis kommen zu können, weisen dafür schon den Weg. Die Sterbehilfe-Lobbygruppe ÖGhL hat zweifellos recht mit ihrer Einschätzung, dass der „zentrale Schritt“ des VfGH ein „historischer Durchbruch“ ist.

Der zentrale Schritt ist, dass die Richter ein Recht auf Suizid postuliert haben, das im „Recht auf ein menschenwürdiges Sterben“ begründet sei. Damit fällt der bisher maßgebende Unwert eines Suizids – mit erheblichen Folgen: Bei der Verwirklichung eines Rechts darf man sich auch helfen lassen. Damit ist auch das Verbot des „Verleitens zum Selbstmord“ sturmreif geschossen, das die Richter damit begründen, man dürfe den Entschluss zum Suizid „nicht unter dem Einfluss Dritter“ treffen. Doch der Mensch steht fast bei jeder Entscheidung auch unter dem Einfluss Dritter – warum soll das nur beim Suizid nicht so sein dürfen? Warum darf ein Verwandter jemandem nicht dazu raten, sein „Recht auf ein menschenwürdiges Sterben“ in Anspruch zu nehmen? Warum darf ein Dr. Tod nicht dafür werben?

Ein Mitwirkungsverbot für Ärzte an Suiziden kann aus demselben Grund gekippt werden. Wenn der Suizid ein gutes Recht ist – warum darf man dann ausgerechnet die geeignetsten Experten nicht um Hilfe bitten? Und dann wird auch die Tötung auf Verlangen erlaubt werden. Die Richter haben ja schon diesmal nur aus formalen, nicht aus inhaltlichen Gründen auf einen Spruch verzichtet. So wie es, wie die Richter sagen, zwischen dem Ablehnen lebensverlängernder Behandlung und der aktiven Selbsttötung keinen relevanten Unterschied gibt, ist auch nicht relevant, wer die Giftinfusion in Bewegung setzt – ich oder der Arzt. Und wenn ich gar nicht in der Lage dazu bin – muss mir dann nicht sogar der Arzt zu meinem Recht verhelfen?

Seien wir realistisch: Der Damm ist gebrochen. Ob man das nun als Erleichterung ansieht oder wie ich als Bedrohung: Der Weg ist frei für das Töten als anerkannte Option. Mit allen Folgen.

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

www.diepresse.com/cultureclash

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.12.2020)

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