Sorgen der Briten

„Wir müssen jetzt das Beste daraus machen“

Dalek, Darth Vader, Joker, Johnson: In den Augen vieler Briten ist Premier Boris Johnson (die Nummer vier in der Graffiti-Aufstellung) wegen seiner Pro-Brexit-Haltung ein hochkarätiger Bösewicht.
Dalek, Darth Vader, Joker, Johnson: In den Augen vieler Briten ist Premier Boris Johnson (die Nummer vier in der Graffiti-Aufstellung) wegen seiner Pro-Brexit-Haltung ein hochkarätiger Bösewicht.(c) REUTERS (Russell Boyce)
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Mit der Rückkehr des Themas EU-Austritt in die Schlagzeilen wachsen auch wieder die Sorgen der Briten vor dem Ende der Mitgliedschaft.

Simone hat ihren Heimaturlaub in Frankreich in diesem Winter definitiv abgesagt. „Wer weiß, ob ich dann überhaupt noch zurückkommen kann“, sagt die Angestellte einer Rechtskanzlei in der Londoner City. Seit mehr als 20 Jahren lebt die Französin bereits in der britischen Hauptstadt. Ihren französischen Pass will sie behalten, aber längst hat sie sich einen dauerhaften Aufenthalt (einen sogenannten „settled status“) in ihrer Wahlheimat besorgt. Dennoch bleibt sie skeptisch: „Wer weiß heute schon, was morgen noch gilt?“

Mit dieser Sorge ist sie nicht allein. Wenige Tage vor dem Ablauf der Brexit-Übergangsfrist am 31. Dezember sind sich die meisten Bewohner des Landes weiter im Unklaren, welche Folgen der EU-Austritt für sie haben wird. Das Ausbleiben einer Handelsvereinbarung wird nach offiziellen Schätzungen im neuen Jahr zwei Prozentpunkte an Bruttoinlandsprodukt kosten und die Arbeitslosigkeit auf bis zu 8,5 Prozent steigen lassen. Die Unsicherheit bis zur letzten Sekunde lässt der Wirtschaft keine Zeit für Vorbereitungen. Unvermeidlich wächst in den vergangenen Tagen die Angst vor elementaren Versorgungsengpässen: Nur 50 Prozent der in Großbritannien konsumierten Lebensmittel stammen aus heimischer Produktion, 25 Prozent werden aus der EU importiert.

Das schlägt sich auf die Stimmung nieder. War der Brexit die längste Zeit von der Coronakrise überschattet, kehrt er nun wieder auf das Tapet zurück: „Je mehr die Menschen davon hören, umso mehr wachsen die Sorgen“, sagt der Politikprofessor Tim Bale von der Queen Mary University of London zur „Presse“. Jüngste Umfragen zeigen, dass der Brexit nach Covid-19 das Thema ist, das die Briten zurzeit am meisten beschäftigt.

Nur neun Prozent bedauern ihr Votum

Dabei haben sich die Meinungen in den mehr als vier Jahren seit dem Referendum im Juni 2016 kaum geändert. Eine Umfrage unter mehr als 2000 Wählern des Instituts Britain Thinks ergab diese Woche, dass insgesamt nur neun Prozent der Befragten heute ihre damalige Entscheidung bedauern: Unter den „Remainers“ bedauern fünf Prozent ihre Entscheidung, unter „Leavers“ sind es 13 Prozent. Da es sich um unterschiedlich große Gruppen handelt, liegt der Gesamtanteil bei neun Prozent. Christopher Booth, Medientrainer und Fotograf, sagt: „Wir müssen mit dem leben, was wir entschieden haben. Auch wenn ich nie den Brexit wollte, muss ich jetzt versuchen, das Beste daraus zu machen.“

Unterirdische Zustimmungswerte

Das Fügen ins Unvermeidliche heißt aber nicht, dass die Politiker aus der Verantwortung entlassen sind. Nach einer Umfrage des Instituts Ipsos-Mori von dieser Woche denken 63 Prozent der Briten, dass die Regierung von Premierminister Boris Johnson den EU-Austritt schlecht managt, während nur 28 Prozent ein positives Urteil abgeben. Meinungsforscher Gideon Skinner: „Die Zustimmungswerte der Regierung sind unterirdisch.“ Dafür verantwortlich ist nicht nur das endlose Warten auf einen Abschluss der Verhandlungen mit der EU. Hinzu kommt, dass sich die Regierung mit ihrer demonstrativen Bereitschaft, die Gespräche auch platzen zu lassen, nicht im Einklang mit der Meinung des Volkes befindet.

„Alle Umfragen zeigen sehr deutlich, dass die Mehrheit der Briten eine Vereinbarung will. Allerdings, und das ist nicht überraschend, sind die Brexit-Anhänger etwas zuversichtlicher zu den Zukunftsaussichten. Das größte Missverständnis ist allerdings immer noch, dass die Briten glauben, bei einem Deal werde alles so weitergehen wie bisher“, sagt Politologe Bale.

„Kann man dieser Führung vertrauen?“

Dieser Illusion hängt der frühere BBC-Journalist Booth, der unter anderem Büroleiter in Moskau und Bagdad war, nicht an: „Ich habe für den Verbleib in der EU gestimmt, denn obwohl ich ernste rechtsstaatliche Bedenken gegenüber der Union habe, dachte ich, dass es dennoch die bessere Option für uns sei. Aber nachdem die Entscheidung für den Austritt gefallen ist, müssen wir es endlich hinter uns bringen. Das katastrophale Versagen der Regierung in der Covid-Krise wirft jedoch die Frage auf, ob man dieser Führung beim Brexit vertrauen kann. Meine Befürchtungen sind in den vergangenen Wochen nur noch größer geworden.“

Dennoch sei nicht alles verloren. Booth gibt sich philosophisch: „Zum Glück verläuft die Zeit linear.“ Was er damit meint? „Eines Tages werden wir eine neue Regierung haben, und ich hoffe, wir werden dann eine bessere Mannschaft bekommen. Und das sage ich als jemand, der traditionell Sympathien für die Konservativen hat. Wir leben in einer verdammt schwierigen Zeit. Brexit ist hart genug. Covid hat alles doppelt so schwer gemacht. Wir brauchen also Leute an der Spitze, die wissen, was sie tun.“

Persönlich fühlt sich Booth „nicht mehr als jeder andere“ betroffen: „Wir alle spüren den Rückgang, und der Brexit wird alles noch schlimmer machen. Am meisten sorge ich mich um Beschäftigte im Gastgewerbe oder Handel und besonders ausländische Beschäftigte mit Mindesteinkommen. Ich darf mich glücklicherweise zur Mittelklasse zählen. Ich werde weniger reisen und werde mir nicht alles kaufen können, was ich vielleicht gern hätte. Aber wir werden nicht hungern müssen.“ Und Klopapier wird er auch nicht horten? „Manchmal behindert uns Briten die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ein bisschen in der Wahrnehmung der Gegenwart.“

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