Interview: Gisela Stuart

„Wir haben aneinander vorbeigeredet“

Gisela Stuart: „Ich habe unserer Jugend das letzte Wort zurückgegeben darüber, wer unsere Gesetze macht. Das betrachte ich als sehr ehrenhaft.“
Gisela Stuart: „Ich habe unserer Jugend das letzte Wort zurückgegeben darüber, wer unsere Gesetze macht. Das betrachte ich als sehr ehrenhaft.“(c) Justin Sutcliffe/picturedesk.com
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Die deutschstämmige Labour-Politikerin Gisela Stuart hat an der EU-Verfassung mitgearbeitet – und die Kampagne für den Brexit mitinitiiert. Dass Paris beim Irak-Krieg 2003 Großbritannien nicht unterstützt hat, ist laut ihr für den EU-Austritt mitverantwortlich.

Die Presse: Sie wurden in Bayern geboren, kamen 1974 nach Großbritannien, gewannen 1997 einen Traditionssitz der Konservativen für die Labour Party und saßen 20 Jahre für die Partei im Unterhaus. Sie begannen Ihre politische Karriere als überzeugte Europäerin, Premierminister Tony Blair schickte Sie in den Europäischen Konvent zur Arbeit an einer EU-Verfassung; und 2016 waren Sie Vorsitzende der „Vote Leave“-Bewegung und führten mit den konservativen Politikern Boris Johnson und Michael Gove die Kampagne für den Brexit. Warum ist es auf der politischen Reise zu dieser Wende gekommen?

Gisela Stuart: Ich war immer eine begeisterte Europäerin und habe mit Leidenschaft im Konvent an einer Verfassung für die EU mitgearbeitet. Bis zu den letzten drei Tagen der Verhandlungen im Juni 2003 war ich enthusiastisch. Dann sah ich, dass die Verfassung keinerlei demokratische Kontrollmechanismen vorsah. Das konnte ich nicht mittragen. Ich bin der Überzeugung, dass demokratische Strukturen ein System der Gewaltenteilung brauchen. Die damals diskutierte Verfassung blieb weit hinter diesen Erfordernissen zurück.




Damals regierte in London mit Blair ein Premierminister mit dezidiert EU-freundlicher Haltung.

Blair war der einzige britische Ministerpräsident, der wirklich an das Konzept der Europäischen Union glaubte, nicht aus Sentimentalität, sondern aus strategischer Überlegung. Er unternahm jede Menge auf allen Ebenen, um Großbritannien in Europa zu verankern und das britische System an das europäische anzupassen. Nur Blair hatte die Statur und Absicht dafür. Aber dann kam der Irak-Krieg, und von dem Moment an ging seine Regierung in eine andere Richtung.

Warum und in welchem Sinn?

Weil der Krieg alle Kräfte band. Und die britische Position zu Europa änderte sich nach dem Bruch mit Frankreich, nachdem sich Präsident Jacques Chirac offen gegen Washington und London gestellt hatte. Niemand erwartete von den Deutschen, dass sie mitkämpfen würden. Aber alle rechneten damit, dass die Franzosen in letzter Sekunde zu ihren Verbündeten stehen würden.

Blair stellte sich damals scheinbar bedingungslos an die Seite der USA. Danach wurde er als „Bushs Pudel“ verspottet. Sah man das nicht kommen?

Er wurde tatsächlich zum Gespött. Aber es ist leicht, im Nachhinein ein Urteil zu fällen. Vergessen wir nicht, dass die Interventionen des Westens ohne UN-Resolution bereits früher begannen: Bosnien, Kosovo, Sierra Leone. Damals sprach man sogar von der Blair-Doktrin und der „Pflicht, zu beschützen“, notfalls ohne Segen der Vereinten Nationen. Dagegen hatten wir einen Diktator wie Saddam Hussein, der sein eigenes Volk unterdrückte und tötete und eine UN-Resolution nach der anderen ignorierte.

Zur Person

Gisela Stuart wurde 1955 im niederbayrischen Velden geboren und kam 1974 nach Großbritannien. Bei ihrem ersten Antreten um ein Parlamentsmandat 1994 scheiterte die ausgebildete Buchhändlerin und Juristin noch unter ihrem Mädchennamen Gschaider, 1997 aber errang die Mutter zweier Söhne einen Traditionssitz der Konservativen in Birmingham, den sie fortan für 20 Jahre als Gisela Stuart im Unterhaus vertrat. Im September 2020 erhob sie Premierminister Johnson zur Baroness und berief sie ins House of Lords.

Zurück ins Jahr 2016: Was bewog Sie dazu, nach fast 20 Jahren für Labour im Parlament gegen die Linie Ihrer Partei den Vorsitz von Vote Leave zu übernehmen?

In gewisser Hinsicht habe ich das nie gewollt. Als die Volksabstimmung ausgeschrieben wurde, wollte ich mich bewusst heraushalten. Aber ich hatte eine Unterhaltung mit (Ex-Außenminister, Anm.) David Owen, der mir sagte: Das Land ist dabei, eine Wahl für Generationen zu treffen. Du kannst es dir nicht erlauben, dazu keine Meinung zu haben. Unter allen Umständen wollte ich verhindern, dass (der Führer der Rechtspopulisten, Anm.) Nigel Farage die Führung für den EU-Austritt übernimmt, und daher engagierte ich mich. Aber ich wusste schon, dass ich da bis an die Grenzen ging.

Haben Sie einen Preis bezahlen müssen?

Ja, es hatte Folgen. Aber es wurde erst nach dem Referendum sichtbar. Das war wahrscheinlich die unangenehmste Periode meines ganzen Lebens. In der Politik hat man viele Bekannte, aber wenige Freunde. Ich habe vielleicht Bekannte verloren, aber Freunde gewonnen.

Wie war es für Sie, mit Johnson und Gove gemeinsame Sache zu machen?

Vergessen Sie nicht, dass auch im Schottland-Referendum 2014 die Entscheidung nicht entlang von Parteilinien verlief. Damals sahen sich Vertreter aller Parteien gezwungen, für den Erhalt Großbritanniens zu werben. Also fühlte es sich nicht seltsam für mich an. Zudem kannte ich Michael seit vielen Jahren, Boris hingegen nicht.

»„Niemand erwartete von den Deutschen, dass sie im Irak mitkämpfen würden. Aber alle erwarteten, dass die Franzosen zu ihren Verbündeten stehen würden.“«

Gisela Stuart, Baroness, Mitglied des House of Lords

Wie ist der „echte Boris Johnson“?

Der echte Boris Johnson ist ein kosmopolitischer, urbaner Liberaler. Man kann das sehen. Aber als Politiker muss man manchmal harte Entscheidungen treffen.

Hätte die EU vor dem Referendum 2016 mehr machen können, um die Briten für den Verbleib in der Union zu gewinnen?

Ich glaube nicht. Es ist wahr, dass (der damalige Premierminister David, Anm.) Cameron mit leeren Händen aus Brüssel nach Hause kam. Aber er hat auch nichts Wirkliches verlangt.

Was war für Großbritannien Ihrer Ansicht nach nicht mehr akzeptabel?

Die gesamte Architektur ist auf ein Kerneuropa aufgebaut, das eine ständige Vertiefung der Integration verlangt, und daneben gibt es eine Peripherie, die nicht am Euro teilnimmt. Zudem gibt es das permanente Versagen der EU, gegenüber Nachbarstaaten Beziehungen aufzubauen, die nicht zu einer Mitgliedschaft führen. Es ist als Versäumnis zu verstehen, dass die Einführung des Euro 2002 und die Osterweiterung 2004, zusammen mit der fehlenden Bereitschaft, unterschiedliche Dimensionen der Integration für einzelne Nationalstaaten anzuerkennen, zu dieser gegenseitigen Entfremdung geführt haben. Als (die deutsche Bundeskanzlerin, Anm.) Angela Merkel (im Februar 2014, Anm.) vor dem britischen Parlament sprach, waren die Hoffnungen groß, dass sie zur Rettung eilen würde. Aber es war ein klassischer Fall von (wechselt ins Deutsche, Anm.) „eine ganze Generation lang hat man aneinander vorbeigeredet“.

Damit kann allerdings niemand zufrieden sein.

So ist es eben geschehen. Besonders kritisiere ich Cameron dafür, dass er die EU-Volksabstimmung in seiner Partei praktisch unvermeidbar gemacht hat. Seine Strategie war lang, das Problem Europa zu lösen, indem man nicht darüber sprach. Man könnte sagen, dass wir die Fähigkeit verloren haben, europäisch zu sprechen.

Am Morgen nach dem Referendum waren Sie im Zug nach London, als Ihr Sohn Ihnen eine Nachricht schrieb, dass Sie gerade den Rücktritt des Premiers und Milliardenverluste an den Börsen verursacht hätten. Fühlen Sie sich verantwortlich für die monumentalen Ereignisse, die Sie mit Ihrer Kampagne ausgelöst haben?

Ja, der Brexit wird Folgen haben. Ich wuchs noch auf mit Geschichten aus erster Hand, was es bedeutet, aus seinem Geburtsland vertrieben zu werden, und niemals hat meine (aus dem Sudetenland stammende, Anm.) Mutter den Tag vergessen, an dem man ihrer Familie (auf Deutsch, Anm.) das Ausweisungsdatum mitteilte. Meine Überzeugung ist: In einem Land zu leben, wo ich eine Stimme habe, mit der ich meine Regierung wählen und – noch wichtiger – auch abwählen kann, und die Tatsache, dass dieses Land eine liberale Demokratie ist, das steht an allererster Stelle für mich. Ich habe unsere Jugend nicht von Europa abgeschnitten, diese Verbindungen werden weiter bestehen. Aber ich habe unserer Jugend das letzte Wort zurückgegeben darüber, wer unsere Gesetze macht. Das betrachte ich als sehr ehrenhaft.

Ist Großbritannien für das Ende der Brexit-Übergangsperiode gut aufgestellt?

Kein Land auf der Welt ist momentan in einem besonders guten Zustand. Aber ich bleibe bei der Überzeugung, dass liberale Demokratien die beste Ordnung sind, die wir kennen.

Der Brexit kommt. Sind Sie zufrieden?

Ob es mir nun gefällt oder nicht, was ich sagen kann, ist, dass ich Politikerin in einem Moment tektonischer Verschiebungen war und Einfluss darauf hatte. Ich glaube, dass ich letztlich den richtigen Weg gewählt habe. Immer wieder gibt es Augenblicke, in denen ich mir denke: Liebe Europäische Union, wenn ihr uns nur verstanden hättet, dann wäre Großbritannien heute immer noch ein Mitglied. Die vorherrschende Meinung auf dem Kontinent ist, dass der Brexit eine Narretei der Briten war. In Wahrheit ist er das Ergebnis davon, dass die beiden Seiten einander nicht zugehört haben. In 50 Jahren wird man für bemerkenswerter halten, dass Großbritannien 1973 der Europäischen Gemeinschaft beigetreten ist, als den Brexit von 2016.

Wagen wir einen Blick in die Zukunft: Wird 2021 der „britische Löwe wieder brüllen“, wie es Johnson angekündigt hat?

Niemand wird für lange Zeit viel Grund zum Brüllen haben. Die Folgen von Covid werden schwer sein. Das Beste daran, jung, 18 Jahre zu sein, ist doch, dass man sich unbesiegbar fühlt und einem die ganze Welt offen zu stehen scheint. Die Pandemie hat das mit einem Schlag zerstört. Wir wissen jetzt nicht, ob und wann aus der Raupe ein wunderschöner Schmetterling schlüpfen wird.

Nach fast 50 Jahren in Großbritannien: Wo ist heute das Zuhause für Sie?

Nach dem Ausscheiden aus dem Parlament kaufte ich mir ein Stück Land und je älter ich werde, desto mehr werde ich wieder die bayrische Bäuerin, die ich immer schon war. Aber zu Hause ist für mich, wo die Familie ist, die Kinder und Enkelkinder.

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