Filmjahr

Starkes Jahr für Regisseurinnen

Einer der Serienhits des Jahres: Michaela Coel erkundet in „I May Destroy You“ die Bruchstellen sexueller Einvernehmlichkeit. Im Bild: Coel und Weruche Opia.
Einer der Serienhits des Jahres: Michaela Coel erkundet in „I May Destroy You“ die Bruchstellen sexueller Einvernehmlichkeit. Im Bild: Coel und Weruche Opia. HBO
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Geschlossene Kinos, Streaming-Revolution, Blockbuster-Entzug: 2020 war ein außergewöhnliches Filmjahr. Und es war von weiblichen Gesichtern und Geschichten geprägt.

Allein schon wegen der vielen Gesichtsausdrücke von Michaela Coel in der Rolle der Arabella ist die Serie „I May Destroy You“ eine Entdeckung. Wie ihre Mundwinkel in freudiger Ekstase einrasten, wenn sie feiernd durch die Londoner Clubs zieht. Wie ihre Lippen und Augenbrauen nervöse Tänze aufführen, wenn sie ihrem Verlag erklären muss, dass sie wieder einmal kein neues Kapitel zu Papier gebracht hat. Wie sie den Mund unwillkürlich zu einem halben Grinsen verzieht und ins Leere starrt, als sie im Kammerl der Polizisten sitzt, die ihre Vergewaltigung scheinbar viel ernster nehmen als sie selbst. Die Serie (bei uns auf Sky zu sehen) ist eine der meist gelobten und diskutierten des Jahres – und die britische Autorin, Schauspielerin und Regisseurin Michaela Coel eine jener Frauen, die die vergangenen Monate auf den Leinwänden und Bildschirmen am deutlichsten geprägt haben.

Davon gibt es einige. 2020 war für die Laufbildindustrie ein außergewöhnliches Jahr: Sie wurde schmerzhaft durchgerüttelt, Kinostarts wurden immer und immer wieder verschoben oder abgesagt, Dreharbeiten vertagt, Kinos zugesperrt und die Grenzen zwischen Leinwand- und Streamingkunst wohl nachhaltig eingerissen. Doch es war auch ein Jahr, das in Kino und TV von starken Frauen dominiert war: Unter den Gesichtern und Geschichten, die heuer am meisten Beachtung bei Publikum und Fachwelt fanden, waren außergewöhnlich viele weibliche.

Da wäre etwa Chloé Zhaos Venedig-Siegerfilm „Nomadland“, in dem Francis McDormand als hartgesottene Aussteigerin im Wohnmobil durch den Westen der USA fährt. Eliza Hittmans stilles „Never Rarely Sometimes Always“ über ein Mädchen, das für eine Abtreibung nach New York fährt. Kitty Greens beklemmend starker Film „The Assistant“ über die Mechanismen, die Weinstein und Co. mit ihren Übergriffen durchkommen ließen. Auch im Serienbereich dominierten Werke von Frauen das Gespräch – neben „I May Destroy You“ etwa die TV-Adaption von Sally Rooneys Bestseller „Normal People“: ein beglückendes Juwel, das unaufdringlich von einer komplizierten Liebe erzählt und dabei einen großen Bogen um alle eingefahrenen Klischees macht, auch in den Sexszenen.


Sieben Frauen in den Top Ten. Die Fülle an ausgezeichneter Qualitätsware aus Frauenhand zeigt sich auch in vielen Rankings, die zum Jahresende gern kuratiert werden. Der „Guardian“ listet in seiner Top-Ten-Liste der „besten Filme des Jahres“ sechs Werke von Regisseurinnen, das British Film Institute gleich sieben: Darunter das britische Drama „Rocks“, die Doku „Time“ über eine Afroamerikanerin, die für die Freilassung ihres inhaftierten Mannes kämpft, und Kelly Reichardts Neo-Western „First Cow“ (sie alle hatten in Österreich noch keinen Kinostart).

Auf einen generellen Strukturwandel ist das eher nicht zurückzuführen. Frauen sind im globalen Filmschaffen immer noch deutlich unterrepräsentiert. Der Anteil der Frauen hinter der Kamera ist seit 1998 kaum gestiegen, ergab kürzlich eine Studie der San Diego State University. Die Forscher analysierten die weibliche Präsenz in Schlüsselstellen wie Regie, Drehbuch, Kamera, Produktion etc. bei den 250 an den US-Kinokassen erfolgreichsten Filmen pro Jahr. Der Anteil stieg von 17 (1998) auf zuletzt 21 Prozent (2019).

Dass das Jahr 2020 ein gutes für Filmemacherinnen werden dürfte, sagten indessen manche Experten schon vor der Pandemie voraus. Beim Sundance-Festival, der bedeutendsten US-Plattform für „Indie-Filme“, stellten im Jänner viele Kritiker erstaunt fest, dass sie nach einigen Tagen, die sie mit der Sichtung der vielversprechendsten und meist umjubelten Filme zugebracht hatten, fast nur Werke von Regisseurinnen gesehen hatten. „Die spannendsten Filme hier sind von Frauen“, schrieb der „Atlantic“ und zählte auf – etwa Josephine Deckers „Shirley“ mit Elisabeth Moss als Horrorautorin Shirley Jackson oder die bittersüße Doku „Dick Johnson Is Dead“ (auf Netflix), in der Kirsten Johnson mit ihrem an Demenz erkrankten Vater allerlei Todesszenarios durchspielt und damit versucht, sein Verschwinden hinauszuzögern.

Dass sich mancher der üblichen Platzhirsche des Autorenkinos heuer pandemiebedingt rarmachte, dürfte die Aufmerksamkeit für Filme, die sonst unter dem Radar fliegen, noch erhöht haben. Wes Andersons starbesetztes Comedy-Drama „The French Dispatch“ etwa wäre in Cannes präsentiert worden. Das Festival wurde abgesagt. Jetzt wartet der Weltverleih auf bessere Zeiten für eine Premiere.

Und da sind natürlich noch die (männlich dominierten) Blockbuster, die heuer weitgehend ausblieben und vielleicht mehr Platz für unscheinbarere Hits ließen. Wobei: Auch im Bereich der multimillionenteuren Actionkracher saßen zuletzt mehr Frauen denn je im Regiesessel. Dass sie jetzt weniger groß als erhofft herauskommen, lässt manche Beobachter, die schon vor Corona ein Kinojahr der Frauen ausriefen, enttäuscht zurück. Niki Caros „Mulan“ erschien als Stream statt im Kino; Patty Jenkins' „Wonder Woman 1984“ kommt in den USA zugleich im Kino und im Netz heraus – transparent messbar wird der Kassenerfolg der beiden Filme nicht sein. Die Marvel-Kapitel „Black Widow“ (von Cate Shortland) und „Eternals“ (von der Venedig-Siegerin Chloé Zhao) wurden um über ein Jahr verschoben. Auf vorerst 2021. Vielleicht wird ja auch das ein gutes Jahr für Frauen im Film.

Was kommt 2021?

Kinoprogramm. Viele gefeierte Filme von Regisseurinnen waren heuer nur bei Festivals zu sehen und dürften 2021 in die heimischen Kinos kommen. Eine Auswahl:

„Nomadland“. Chloé Zhao hätte heuer zwei völlig unterschiedliche Werke herausbringen sollen. Ihr Roadmovie „Nomadland“ kommt bei uns voraussichtlich im März 2021, der Marvel-Superheldenfilm „The Eternals“ im November.

„First Cow“. Kelly Reichardt erzählt von der Freundschaft zweier Männer (und von einer Milchkuh) im Oregon von 1820. Kein Starttermin.

„Kajillionaire“.Miranda Julys schrullige Dramödie über eine Trickbetrüger-Familie hätte im November starten sollen, ein neuer Termin steht aus.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.12.2020)

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