Großbritanniens „Corona-Brexit“

Pandemie. Weil in Großbritannien eine neue, hochansteckende Variante von Corona umgeht, stellen viele Staaten Europas den Verkehr mit den Inseln komplett ein.

Mit dramatischen Worten und Taten will die Regierung in London der rasanten Verbreitung einer offenbar besonders ansteckenden Mutation des Coronavirus entgegentreten. „Mit schwerem Herzen“ verkündete Premierminister Boris Johnson für weite Teile Englands am Samstagabend einen neuerlichen rigorosen und sofortigen Lockdown, den er noch Tage zuvor vehement abgelehnt hatte.

Gesundheitsminister Matt Hancock ließ es am Sonntag nicht an deutlichen Warnungen fehlen: „Die Lage ist außer Kontrolle.“ Und das ist der Grund, warum zahlreiche Staaten Europas am Wochenende jeglichen Reiseverkehr mit den britischen Inseln unterbrachen, von den Niederlanden angefangen über Belgien bis Österreich: Außenminister Alexander Schallenberg sagte, es gebe mit sofortiger Wirkung ein Landeverbot für Flugzeuge aus Großbritannien. Rasche Maßnahmen seien „das Gebot der Stunde“. Weitere Staaten wie Deutschland und Italien wollen ebenfalls solche Sperren verhängen. Doch worum geht es jetzt auf einmal?

1Die neue, nunmehr offenbar britische Variante des Coronavirus.

Erstmals entdeckt wurde diese Mutation von Wissenschaftlern in Südengland schon im Oktober. Der Virenstamm mit der Bezeichnung VUI2020/12/01 hat eine um 70 Prozent höhere Ansteckungsrate als das Wuhan-Virus, zeigt eine der britischen Regierung am Freitag vorgelegte Studie. Zudem würden Infizierte eine höhere Virenzahl aufweisen, erläuterte Susan Hopkins von der Gesundheitsbehörde Public Health England. Die neue Variante sei aber – das ist wichtig – an sich nicht gefährlicher als das bisher bekannte SARS-CoV-2, und man nehme an, dass die mittlerweile entwickelten Impfstoffe auch gegen die Mutation wirken. Eine quantitativ enorme Zunahme der Infektionen, letztlich der schweren Fälle, sei aber für die Krankenhäuser nicht zu bewältigen: „Wir sind schon jetzt völlig überfordert“, sagte der Arzt Chaand Nagpaul von der British Medicial Association.

Die Neo-Variante sei auch schon in den Niederlanden, Dänemark und Australien aufgetaucht, teilte die Weltgesundheitsbehörde WHO mit. Die Epidemiologin Maria van Kerkhove sagte: „Wir haben seit Beginn der Pandemie schon mehrere Mutationen beobachtet.“ Man müsse verstehen, „wie sich diese Varianten verhalten und welche Wirkung sie haben“.

2Wie Großbritannien nun vom Kontinent
„geschnitten“ wird.

Die Nachricht löste sofort Folgen im Reiseverkehr aus. Die Niederlande stellten die Flugverbindungen mit Großbritannien zunächst für zwei Wochen ein, wenig später stoppte Belgien den Flug- und Zugsverkehr. Frankreich – direkt mit den britischen Erzfreunden durch den Ärmelkanaltunnel verbunden – begann mit der Prüfung eines Einreisestopps. Mit weiteren Staaten wurde stündlich gerechnet.

In London führte die Ankündigung der neuen Maßnahmen, die Samstagmitternacht in Kraft traten, zu einer Massenflucht: Ab 19.00 Uhr gab es von den Bahnhöfen Paddington (in den Westen), Kings Cross (in den Osten) und Euston (in den Norden) keine Tickets mehr. Der Bahnhof St Pancras – Endstation des Eurostar – war überfüllt, auf allen Ausfallstraßen herrschte Chaos.

3Wie die neuen Maßnahmen im Königreich aussehen.

Für Südengland und London verkündete Johnson strenge Auflagen, die praktisch einer Rückkehr zum Lockdown des Frühjahrs entsprechen: Die Bürger müssen zuhause bleiben. Geöffnet sind nur mehr Lebensmittelgeschäfte. Besuche in fremden Haushalten sind verboten, außer am Christtag (25. Dezember). Im Freien sind Treffen mit maximal einer Person gestattet. Die Maßnahmen betreffen 21 Millionen Menschen. Gesundheitsminister Hancock forderte zur Einhaltung auf: „Das ist todernst.“

In Schottland verhängte die Lokalregierung ein Einreiseverbot gegen alle anderen Landesteile. Während der Weihnachtsfeiertage werden die Bestimmungen für Treffen im Familienkreis nur am 25. Dezember gelockert. In Nordirland dürfen hingegen zwischen 23. und 27. Dezember bis zu drei Familien zusammenkommen, ehe das Land danach für volle sechs Wochen in den Lockdown geschickt wird. In diesem Zustand befindet sich bereits Wales, wo sich die Mutation des Virus rasant ausbreitet.

4Wie lange werden diese neuen Maßnahmen gelten?

Eine erste Überprüfung soll in England am 30. Dezember erfolgen. Gesundheitsminister Hancock sprach aber bereits von „ein paar Monaten“. Eine Befreiung werde erst die Massenimpfung bringen: „Wir müssen das durchziehen.“ In der ersten zwei Wochen habe man bereits 350.000 Bürger geimpft, in Kürze werde man in der Lage sein, bis zu zwei Millionen pro Woche zu impfen. Chris Whitty, höchster Gesundheitsbeamter des Landes: „Es gibt auch einige wirkliche Anzeichen für Optimismus“.

NEUE VARIANTE

WHO warnt. Die Weltgesundheitsorganisation hat ihre europäischen Mitgliedstaaten angesichts einer neuen Variante des Coronavirus in Großbritannien zu schärferen Corona-Maßnahmen aufgerufen. Außerhalb Großbritanniens wurden bisher elf Fälle der Virus-Mutation gemeldet, die deutlich ansteckender sein soll als das bisherige Virus – neun in Dänemark und je einer in den Niederlanden und Australien. Mehrere europäische Staaten kündigten daraufhin an, die Flugverbindungen aus Großbritannien einzuschränken.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.12.2020)

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