Interview

„Taiwan befindet sich direkt an der Frontlinie“

Taiwans Außenminister, Joseph Wu, spricht im Interview mit der „Presse“ über Chinas Druck auf sein Land, warum sie sich auf einen Angriff vorbereiten und seine Erwartungen in die neue US-Regierung.

Die Presse: Vier Jahrzehnte lang sprachen Chinas kommunistische Machthaber von einer „friedlichen Wiedervereinigung“ mit Taiwan unter der Formel „Ein Land, zwei Systeme“. Zuletzt verzichtete Peking auf das Wort „friedlich“ und führt in Hongkong vor, dass das Modell „Ein Land, zwei Systeme“ keinen Wert mehr hat. Was bedeutet das für Taiwan?

Joseph Wu:
Wir schauen uns genau an, was die chinesische Führung proklamiert. Noch wichtiger für uns ist aber zu verstehen, was sie anstrebt und auf was sie sich vorbereitet. Es stimmt, im März wurde bei einer Gelegenheit das Wort „friedlich“ aus einer offiziellen Erklärung eliminiert, das hat auch international große Besorgnis ausgelöst.

Entscheidend für uns aber ist, was der chinesische Führer, Xi Jinping, zu Taiwan zu sagen hat. Und Xi hat Anfang Jänner erklärt, dass Taiwan mit dem Festland unter dem Modell „Ein Land, zwei Systeme“ zusammengeführt werden soll. Wenn sich Taiwan weigere, werde China dem Einsatz von Gewalt nicht abschwören, ja, behalte sich den Einsatz von Gewalt vor, um die Differenzen mit Taiwan zu lösen.

Und wie steht Taiwan zum „Ein Land, zwei Systeme“-Modell?

Die Menschen in Taiwan haben sehr aufmerksam darauf geachtet, was in Hongkong seit Mitte des vergangenen Jahres abgelaufen ist. Wir sahen Abertausende vor allem junge Menschen, die politische Reformen, direkte Wahlen und den Stopp von Auslieferungen in die Volksrepublik gefordert haben. Am 30. Juni trat dann das Nationale Sicherheitsgesetz in Hongkong in Kraft, womit die Rechte und die Freiheit dieser Stadt beschnitten werden. Jetzt gibt es das Modell „Ein Land, zwei Systeme“ in Hongkong nicht mehr, es gibt nur noch „Ein Land, ein System“ – und das ist das kommunistische. Das sieht man etwa daran, dass demokratisch gewählte Abgeordnete wegen angeblicher Verstöße gegen das Sicherheitsgesetz disqualifiziert wurden. Wenn man heute die Menschen in Taiwan also fragt, ob sie dem Modell „Ein Land, zwei Systeme“ zustimmen, wird die überwältigende Mehrheit in Taiwan Nein sagen.

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