Corona, Covid-18, Schutzmaske,   Foto: Clemens Fabry
2020

Beethoven, Schach und Covid-Dating

Wir rechnen ab. Keine Frage, das üble Ding namens Sars-CoV-2 hat auch das Kulturjahr geprägt, das heißt: gestört. So enthält unser Rückblick etliches, was uns über Lockdowns, Distanzgebote und Betretungsverbote hinweggetröstet hat.

Kulturinstitution

Gold: SALZBURGER FESTSPIELE. Als die meisten den Live-Sommer schon abschreiben wollten, gaben Helga Rabl-Stadler und Markus Hinterhäuser nicht auf – und schafften ein feines Ausnahmeprogramm.

Silber: STAATSOPER. Nutzte ihre Internet-Plattform dazu, nicht nur „Tosca“ mit Netrebko, sondern vor allem eine exzellente Neuproduktion von Henzes „Das verratene Meer“ zu streamen.

Bronze: THEATER IM PARK. Michael Niavarani, Künstler mit Humor, Schmäh und sogar Esprit, tröstet über schwere Zeiten. Er führt auch das Globe Wien und schreibt amüsante Bücher.

Blei: GROSSE THEATER. Die Direktoren protestierten wortgewaltig, oft pathetisch gegen die Schließungen, sperrten aber erst spät auf, und neue Formen fielen ihnen kaum ein.

Urgestein: MUSEEN. Nach anfänglichen Irritationen kämpften sie um ihre (Wieder-)Öffnung – und stärkten ihr Online-Potenzial.

Theater

Gold: JELINEK. Eine fantastische Uraufführung von „Schwarzwasser“, Elfriede Jelineks „Ibiza-Stück“ im Akademietheater. Das Ensemble präsentiert sich in Robert Borgmanns Regie in Hochform.

Silber: TURRINI. „Gemeinsam ist Alzheimer schöner“, Peter Turrinis Stück über ein altes Paar, erlebte mit Maria Köstlinger und Johannes Krisch seine wilde Uraufführung in den Kammerspielen.

Bronze: HIN & WEG. Zeno Staneks Festival mit neuen Texten begeistert mit aktuellen Themen und Originalität an vielen Schauplätzen in Litschau. Wir wünschen uns mehr solche Sommerevents.

Blei: „FARM FATALE“. Philippe Quesnes Satire über Agrarindustrie und Ökoprobleme konnte trotz engagierter Darsteller in Vogelscheuchenkostümen bei den Wiener Festwochen nicht überzeugen.

Urgestein: MARTIN GRUBER. Kombiniert seit Jahren mit seinem Aktionstheater Ensemble heißen Stoff aller Zeiten für lebendige Spektakel.

Kunst

Gold: BEETHOVEN. Die Überraschung des Jahres im Kunsthistorischen Museum. Vier Kuratoren nutzten ihre völlige Freiheit und schufen eine dichte atmosphärische Zauberwelt aus Kunst und Musik.

Silber: GERHARD RICHTER. Im BA-Kunstforum. Oder Warhol im Mumok? Die uns so ambivalent anrührende Romantik von Richters leeren Landschaften traf den Geist der Zeit doch zu genau.

Bronze: „UNVERGESSLICHE ZEIT“. Das Kunsthaus Bregenz hat weltweit am schnellsten reagiert und im Juni die erste Meta-Corona-Ausstellung mit Künstlern von Kentridge bis Schinwald gestemmt.

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FILES-BRITAIN-EU-BREXIT-POLITICSAPA/AFP/Glyn Kirk

Blei: BANKSY. Plumpe Kommerzausstellung, die eine Ikone der Street-Art – noch dazu im neuen Gold der Sofiensäle – zur Lächerlichkeit verdammte.

Urgestein: VAN EYCK, Artemisia Gentileschi, Raffael: Eine Jahrhundert-Ausstellung nach der anderen (in Gent, London und Rom) wurden durch Corona heuer gestört. Traurig war das.

Film

Gold: „NEVER RARELY SOMETIMES ALWAYS“. Ästhetisch sanft, politisch hart: Eliza Hittmans Teenager-Odyssee steht auch für das steigende Selbstbewusstsein junger Autorenfilmerinnen.

Silber: „A HIDDEN LIFE“. Anfang des Jahres brachte Terrence Malick Licht ins Alpenland – mit seinem bildgewaltigen, spirituell unterfütterten Epos über Franz Jägerstätter.

Bronze: „EMMA“. Noch vor „The Queen's Gambit“ berückte Anya Taylor-Joy in dieser exquisit kostümierten, raffiniert adaptierten Jane-Austen-Verfilmung von Autumn de Wilde.

Blei: DISTANCE-KINO. Corona goss Öl ins Streaming-Feuer – und setzte die öffentliche Filmkultur noch stärker unter Druck.

Urgestein: „RICHARD JEWELL“. Clint Eastwoods Diffamierungsdrama über einen unbedarften Wachmann im Visier von FBI und Boulevard sollte Rechts und Links zu denken geben.

Klassik

Gold: IGOR LEVIT. Er hat es mit seinen täglichen Streamings während des ersten Lockdowns geschafft, Klassik zu popularisieren und sich selbst auf Platz eins der heutigen Pianisten zu katapultieren.

Silber: WIENER PHILHARMONIKER. Sie spielen, wenn es sein muss, auch ohne Publikum auf höchstem Niveau: Der Bruckner-Zyklus unter Christian Thielemann ging grandios weiter.

Bronze: QUATUOR ÉBÈNE. Als es noch Livekonzerte gab, rettete Pierre Fouchenneret in einem Husarenstreich einen Konzerthaus-Abend und übernahm ohne Probe den Part der Primgeige.

Blei: VIRUSFOLGEN. Der vielleicht bedauernswerteste Verlust: Riccardo Mutis Wien-Comeback mit „Così fan tutte“ konnte nicht stattfinden.

Urgestein: DOMINIQUE MEYER. Hat gegen die Politik und die skeptischen Bundestheater den Streaming-Dienst der Staatsoper durchgesetzt und sendet nun aus Mailand kräftige Onlinesignale.

Pop

Gold: DUA LIPA. Lebenslustiger Disco-Pop, „Future Nostalgia“ und sogar ein Song namens „New Rules for Covid-Dating“: Diese Britin mit Kosovo-Wurzeln war die ideale Sirene für die Quarantäne.

Dua Lipa
Dua LipaAPA/AFP/Alberto Pizzoli

Silber: JARVIS COCKER. Wale-Retten, Leonard-Cohen-Gedenken, Rave der Evolution und House zu Hause: Dem klügsten Kopf des Brit-Pop ist ein fantastisches Album geglückt.

Bronze: RUN THE JEWELS. Von Billie Holidays „Strange Fruit“ zum alltäglichen amerikanischen Albtraum von heute: Dieses Duo machte den fesselndsten Hip-Hop des Jahres.

Blei: LADY GAGA. Endstation Ba-Ba-Babylon: „Chromatica“ zeigte die Vision einer Popmusik, die programmatisch nur Oberfläche ist.

Urgestein: BOB DYLAN. Als Frankenstein und Cäsar, als Liebling der Musen und Insel-Poet: Auf „Rough and Rowdy Ways“ zeigte sich der 79-jährige Meister in Hochform.

Jazz/Soul

Gold: SAULT. Ein Cover („Rise“) zeigt gefaltete Hände, das andere („Black Is“) eine Faust: Die anonyme britische Soulband brachte „Black Lives Matter“ musikalisch auf den Punkt. Mit Groove.

Silber: MARCUS KING. James, Janis, Jimi in einer Stimme: Die Musik dieses 23-jährigen Texaners mag retro sein, sie ist vitaler, leidenschaftlicher als sehr viel Zeitgeistiges.

Bronze: JIMMY HEATH. Im Jänner ist der große Saxofonist 93-jährig gestorben, zum Abschied erschien das wunderbar nächtliche und samtige Balladenalbum „Love Letter“.

Blei: VAN MORRISON. Wir mögen ihn ja prinzipiell, den alten irischen Grantler. Aber wenn er „No More Lockdown“ singt, ist es doch peinlich.

Urgestein: SUN RA ARKESTRA. Nach 18 Jahren endlich wieder ein neues Album der alten Heliozentriker: „Swirling“ ist so melodiös und chaotisch, dass alle Satelliten zu spinnen beginnen.

Serie

Gold: „THE QUEEN'S GAMBIT“. Die Netflix-Serie über ein Schach-Wunderkind mit Hang zu Pillen und Alkohol war klug, spannend und erstaunlich optimistisch: kein Wunder, dass Schach boomt.

Silber: „I MAY DESTROY YOU“. Keine erzählt so unverkrampft, furchtlos und anarchisch vom Großstadtleben und von sexueller Gewalt wie die Britin Michaela Coel in ihrer zweiten Serie.

Bronze: „NORMAL PEOPLE“. Zwei Teenager, eine komplizierte Liebe: Die Adaption von Sally Rooneys gefeiertem Roman berührt – auch mit Sexszenen, die keiner eingefahrenen Ästhetik hinterherjagen.

Blei: „EMILY IN PARIS“. Ein bisschen Eskapismus konnten wir heuer schon brauchen – aber so anspruchslos wie die Klischeeparade von den „Sex and the City“-Machern muss es auch nicht sein.

Urgestein: „THE EXPANSE“. Die aktuell beste und klügste Science-Fiction-Serie (ja, liebe „Star Trek“-Freunde!) ging jüngst in die fünfte Staffel.

Literatur

Gold: TUDOR-FINALE. Mit der Britin Hilary Mantel folgten wir in „Spiegel und Licht“ heuer Cromwell aufs Schafott: An ihrer Tudor-Trilogie wird man zukünftige Historienepen messen.

Silber: PLANSPRACHENBUCH. Für die aberwitzige, hoch poetische Welt erfundener Sprachen erwies sich Autor Clemens Setz als begnadeter Reiseführer – in „Die Bienen und das Unsichtbare“.

Bronze: HELDINNENEPOS. Der Deutsche Buchpreis für ein Versepos namens „Annette“, wer hätte das gedacht? Anne Webers ungewöhnliches Porträt einer Résistance-Kämpferin hat ihn verdient.

Blei: TWITTERER BÖHMERMANN. Der Satiriker löschte seine über 25.000 Tweets und machte daraus ein Buch. Ein Fall von Größenwahn?

Urgestein: KRAUS UNTER DER LUPE. Gratulation an Zsolnay und Autor Jens Malte Fischer: Immer neue Superlative drängen sich auf, liest man seine Kraus-Biografie „Der Widersprecher“.

A woman wearing a mask that reads, Legalize Blackness stands in Black Lives Matter Plaza in Washington DC onTuesday, No
A woman wearing a mask that reads, Legalize Blackness stands in Black Lives Matter Plaza in Washington DC onTuesday, Noimago images/UPI Photo

Debatte

Gold: BLACK LIVES MATTER. Die Protestbewegung nach dem Tod von George Floyd hatte nicht nur gute Aspekte – aber vor allem in den USA leitete sie bitter nötige Denkprozesse ein.

Silber: ACHILLE MBEMBE. Welche Holocaust-Vergleiche sind zulässig, welche nicht? Der Streit um den kamerunischen Historiker Achille Mbembe brachte brillante Intellektuelle auf den Plan.

Bronze: PRO UND KONTRA STERBEHILFE. Autor Ferdinand von Schirach („Gott“) und der VfgH befassten sich mit Beihilfe zum Suizid: Das brachte einen heftigen, aber lehrreichen Schlagabtausch.

Blei: WIE VIEL DARF KABARETT? Man muss schon verbohrt sein, um Lisa Eckhart Antisemitismus vorzuwerfen – leider taten das etliche.

Urgestein: FREIHEIT VERSUS SICHERHEIT. Ob Covid-19 oder Jihadismus: 2020 stellte Demokratien wieder einmal vor die Frage, wie viel Freiheit in Krisen geopfert werden darf.

Molekül

Gold: MESSENGER-RNA. Eine neue Rolle der vielseitigen Schwester der DNA: Sie lässt in den Proteinfabriken der Zellen virale Proteine erzeugen – und wird so zur Hoffnungsträgerin gegen Covid.

Silber: ANTIKÖRPER. Immunoglobuline nennt man diese Proteine weniger poetisch, sie erkennen jedenfalls die viralen Proteine und bewirken so, dass wir immun werden. Hoffentlich für lange Zeit.

Bronze: INTERFERONE. Ebenfalls Proteine im Dienst des Immunsystems. Besonders aktiv in der ersten, schnellen Reaktion auf das eindringende Virus, bevor spezifische Antikörper übernehmen.

Blei: RITONAVIR. Nur eines von vielen antiviralen Medikamenten, die gegen Covid-19 getestet wurden – und enttäuschten.

Urgestein: ETHANOL. Nein, nicht zum Trinken natürlich, sondern zur Desinfektion. Der Geruch gab der Handhygiene (welch hässliches Wort!) ein leicht dekadentes Odeur.

Die Presse/ Clemens Fabry

Kulturtechnik

Gold: MASKENNÄHEN. Wie schnell man aus der Not eine Tugend machen kann! Nicht nur HandarbeitslehrerInnen hatten eine Freude mit dem kreativen Bedecken der oronasalen Region.

Silber: VIDEOKONFERENZEN. Mit Zoom, Teams und Co. haben wir einander ganz neu kennengelernt und entdeckt, dass sich Sehnsüchte (Sandstrand!) als Bildschirmhintergrund ausleben lassen.

Bronze: BROTBACKEN. Bohemiens aller Bezirke informierten ihre Facebook-Freunde über Sauerteig und Koriander – und entdeckten auch sonst, dass ihre Küche nicht nur für Partys gut ist.

Blei: AMPEL. Im Straßenverkehr leistet sie ja gute Dienste. Im politischen Umgang mit Covid-19, zumindest in Österreich, offensichtlich nicht.

Urgestein: SPAZIERENGEHEN. Der Gesundheitsminister hat es uns schon im März explizit erlaubt, seither schlendern und eilen wir durch Wald und Wiese, mit Schrittzähler oder ohne.

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