Sport-Club

Wunden im jüdischen Wien

Der Desider-Friedmann-Platz in der Wiener Innenstadt
Der Desider-Friedmann-Platz in der Wiener InnenstadtBenedikt Kommenda
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Das, liebe Gäste im Sport-Club, ist kein lustiger Text zu Silvester, sondern etwas Schweres wie 2020.

Auf dem Programm steht eine Erkundung Wiens mit dem Fahrrad, mehr zur physischen denn zur psychischen Erholung, die beide trotz Lockdown im Freien erlaubt sind: Denn wir (be)suchen das jüdische Wien, im Wissen, dass wir kaum etwas finden werden, worauf die Stadt und ihre Bewohner stolz sein könnten. Vor fast genau zwei Monaten hat ein Terrorist rund um die Synagoge in der Seitenstettengasse vier Menschen getötet und 23 verletzt – und damit just im Zentrum des jüdischen Lebens auch Wunden in die Stadt geschlagen.

Denk- und Gedenkstätten in Wien
Denk- und Gedenkstätten in WienGrafik: Gregor Käfer

Wir starten unsere Tour, wie im schon älteren Büchlein „Wien mit dem Citybike entdecken“ empfohlen, am Praterstern und fahren über die Nordbahnstraße in Richtung der ersten Station, des Volkertplatzes. Hier erinnern in den Boden eingelassene „Stolpersteine“ an vertriebene und ermordete Jüdinnen und Juden.

Der Jüdische Friedhof in der Seegasse
Der Jüdische Friedhof in der SeegasseBenedikt Kommenda

Wir wechseln von der Leopoldstadt auf den Alsergrund, wo einst mehr als die Hälfte der Bevölkerung jüdisch war. Der jüdische Friedhof im Hof des Pensionistenheims Haus Rossau in der Seegasse ist in einem noch tristeren Zustand, als er sein müsste (ist es ein Stück Dachblech, das es hierher auf die Gräber verweht hat?). Vor der Servitenkirche halten 462 Schlüssel unter Glas im Boden die Erinnerung an frühere Bewohner des Viertels wach.

Der Judenplatz, rechts im Bild das Jordanhaus, links die Böhmische Hofkanzlei
Der Judenplatz, rechts im Bild das Jordanhaus, links die Böhmische HofkanzleiBenedikt Kommenda

Der Judenplatz in der Innenstadt verdichtet den mittelalterlichen Judenhass im antisemitischen Relief am Jordanhaus (Nr. 2), die Shoah, derer Rachel Whitereads Mahnmal gedenkt, die Statue des Fürsprechers für Toleranz, Gotthold Ephraim Lessing, und das Schuldeingeständnis der katholischen Kirche in einer Tafel an Haus Nr. 6 zu einer aufrüttelnden Gleichzeitigkeit.

Vollends ins Jetzt führt der Weg über den Hohen Markt, den Bauernmarkt und – ab sofort wird das Rad getragen/geschoben – die Jerusalem Stiege vorbei an der Synagoge hinunter zum Morzinplatz: Zahllose ausgebrannte Grabkerzen erinnern an die Opfer des 2. November. Wie rote Krusten überdecken sie die Tatorte.

Die Route aus dem Buch würde zurück in die Leopoldstadt führen. Ich beende sie hier, tief bewegt.

E-Mails an: benedikt.kommenda@diepresse.com

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