Der ökonomische Blick

Digitalisierung und Versicherung: Die transparentere Risikogemeinschaft

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Der Mensch wird transparenter. Welche Folgen hat das auf Kundinnen und Kunden von Versicherungsunternehmen?

Neue Technologien ermöglichen, Informationen zu generieren, zu speichern, aus vielen Informationsquellen zu bündeln und zielgerichtet zu verwerten. Der Mensch wird durchsichtiger, transparenter. Fokus meines Beitrages ist es, Chancen neuer Informationsgenerierung für Kundinnen und Kunden von Versicherungsunternehmen aufzuzeigen.

Fokus bedeutet auch Abgrenzung von folgenden, mit Digitalisierung verbundenen Themen und Ängsten, die ich alle für berechtigt und relevant halte: Schutz der Privatsphäre und Würde des Menschen, Angst vor einem Überwachungsstaat, juristische Fragen, z.B. zu Eigentumsrechten an Daten, Profilbildung des einzelnen Menschen, Preisdiskriminierung, Monopolbildung von Technologieunternehmen aufgrund von Netzwerkeffekten, Anfälligkeit von und Manipulationsmöglichkeiten durch neue Technologien.

Die Wertschöpfung der Versicherungsbranche liegt in der Vermittlung gegenseitiger Finanzierung von Risiken. Wir sprechen daher auch von einer Risikogemeinschaft, deren Mitglieder wir sind, Kundinnen und Kunden von Versicherungsunternehmen. Erleidet einer von uns durch einen Schicksalsschlag einen finanziellen Verlust, so helfen die anderen aus, und umgekehrt. Dadurch reduzieren wir die Existenzgefährdung jedes einzelnen.

Risiken können sehr unterschiedlich sein. In vielen Fällen können wir Risiken in ihrer Ausprägung durch unser Verhalten beeinflussen und dadurch steuern. Für eine gut funktionierende Risikogemeinschaft ist es essentiell, dass Informationen über diese Faktoren, die das Risiko bestimmen, in die „Aufnahmekonditionen“ zur Risikogemeinschaft miteinfließen. Unterschiedlichen „Aufnahmekonditionen“ liegt daher eine Preisdifferenzierung zugrunde, keine Preisdiskriminierung.

Jede Woche gestaltet die „Nationalökonomische Gesellschaft" (NOeG) in Kooperation mit der "Presse" einen Blog-Beitrag zu einem aktuellen ökonomischen Thema. Die NOeG ist ein gemeinnütziger Verein zur Förderung der Wirtschaftswissenschaften.

Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der „Presse"-Redaktion entsprechen.

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Neue Technologien bieten zum einen die Möglichkeit, dass wir Neues über die Steuerungsmöglichkeit unserer Risiken, über Ursache und Wirkung von Verhalten auf Risiko, lernen. Für jeden einzelnen Menschen bietet dieser Erkenntnisgewinn Vorteile. Er führt zu besseren Entscheidungen im Kontext von Präventionsmaßnahmen, zeigt potenziell neue Präventionsmaßnahmen auf. Aber auch im Kontext der Risikogemeinschaft bietet der Erkenntnisgewinn über Ursache und Wirkung von Verhalten auf Risiko Vorteile. „Aufnahmekonditionen“ in die Risikogemeinschaft können nun besser auf Verhalten abgestimmt werden. Die Aufnahmekonditionen werden so gerechter, da die Effekte des Verhaltens jedes Einzelnen auf die anderen in der Risikogemeinschaft berücksichtigt werden. Gerechtere Aufnahmekriterien führen zu einer attraktiveren und besser funktionierenden Risikogemeinschaft.

Neue Technologien bieten auch die Möglichkeit, dass wir Neues über die „reine“ Schicksalskomponente unserer Risiken erfahren. Welche Auswirkungen kann dieser Erkenntnisgewinn für jeden Einzelnen von uns und für unsere Risikogemeinschaft haben? Es gibt für jeden Einzelnen Vorteile, wenn wir unsere Schicksalsrisiken besser kennen, d.h., wissen, zu welcher Risikountergruppe wir gehören. Selbst wenn wir die Schicksalskomponente des Risikos nicht direkt beeinflussen können, so können wir uns doch auf die Folgen der Risiken besser vorbereiten. Für das Funktionieren unserer Risikogemeinschaft sehe ich unterschiedliche Auswirkungen aufgrund der besseren Differenzierungsmöglichkeit unterschiedlicher Risikountergruppen. Diese Auswirkungen sollten wir allerdings im Vergleich zum Funktionieren unserer Risikogemeinschaft bewerten, bevor wir Risikountergruppen differenzieren konnten.

Fehlende wichtige Information über unsere Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Risikountergruppen kann im Extremfall dazu führen, dass manche der Risikogemeinschaft nicht beitreten, da die „Aufnahmekonditionen“ zu teuer sind. Steigende Transparenz erlaubt es dann, die Aufnahmekonditionen nach Risiken zu differenzieren und erhöht damit die Funktionalität der Risikogemeinschaft zum Vorteil aller Risikountergruppen.

Vor- und Nachteile

Fehlende Differenzierung kann aber auch zu einer Risikogemeinschaft führen, bei der einzelne Risikountergruppen andere subventionieren. Steigende Transparenz wird daher zu gerechteren und günstigeren Konditionen für die vormals subventionierenden Risikountergruppen führen, auf Kosten von gerechteren und daher teureren Konditionen der vormals subventionierten Risikountergruppen. Wie gehen wir mit diesen möglichen Vor- und Nachteilen unterschiedlicher Risikountergruppen aufgrund von steigender Transparenz um? Wollen wir als Gesellschaft gewisse Risikountergruppen subventionieren? Dies ist meines Erachtens eine gesellschaftlich politische Frage, weniger eine wirtschaftliche Frage. Hierfür gäbe es jedenfalls andere Möglichkeiten der Subventionierung, die das Funktionieren unserer Risikogemeinschaft nicht beeinflussen.

Zuletzt möchte ich anmerken, dass der Erkenntnisgewinn über die mögliche Zugehörigkeit zu einer Risikountergruppe als solcher selbst ein Risiko für jeden einzelnen darstellt. Je nach Zugehörigkeit werden die Aufnahmekonditionen angepasst. Wie können wir uns gegenseitig gegen dieses Risiko absichern? Wir müssten uns vor dem Erkenntnisgewinn langfristig an die Risikogemeinschaft binden, d.h., bevor zusätzliche Informationen über die Zugehörigkeit zu Risikountergruppen generiert werden.

Wie können wir dies schaffen in Verbindung mit immer neuen technologischen Möglichkeiten, neue Risikogruppen „aufzudecken“? Idealtypisch wären langfristige, gegenseitig bindende Verträge über die Zugehörigkeit zur Risikogemeinschaft. Dies scheint in einer Privatwirtschaft, die sich durch freie Wahlmöglichkeiten auszeichnet, schwer umsetzbar. Alternativ könnten wir die Nutzung neuer Technologien bzw. die Verwertung neuer Erkenntnisse verbieten. Auch dies scheint mir schwer umsetzbar, vor allem aber auch nicht sinnvoll. Es würde eine Regulierungsbehörde voraussetzen, die immer über die neuesten Innovationen und deren Anwendungen informiert ist. Zudem wäre dies kontraproduktiv für den Nutzen von verbesserten Präventionsmöglichkeiten sein. Es bleibt die Möglichkeit, Risiken zu sozialisieren. Die Sozialversicherung ist ein solcher Gesellschaftsvertrag, der langfristig, über Generationen hinweg bindend, und unabhängig ist von der Zugehörigkeit des Einzelnen zu einer spezifischen Risikogruppe. Diese schützt also vor dem Zugehörigkeitsrisiko.

Lassen Sie mich kurz zusammenfassen. Steigende Transparenz durch Digitalisierung bietet viele Chancen und Vorteile. Sie scheint mir unvermeidbar, die Nutzung lässt sich schwer verbieten, und Rahmenbedingungen und Anreize müssen so geschaffen werden, dass der Erkenntnisgewinn genutzt wird, um Verhalten und darüber Risiken zum Vorteil aller zu steuern. Wichtig, allerdings auch nicht einfach, ist es, hierbei zwischen der steuerbaren Komponente und der Schicksalskomponente eines Risikos zu differenzieren und deren mögliche Verschiebungen zu berücksichtigen. Schicksalsrisiken benötigen möglicherweise einen Schutz vor Erkenntnisgewinn.

Der Autor

Alexander Mürmann ist seit 2007 Professor für Risikomanagement und Versicherung an der Wirtschaftsuniversität Wien. Er beschäftigt sich mit Entscheidungsverhalten unter Unsicherheit und Auswirkungen von Informationsproblemen auf Versicherungsmärkte. Von 2001 bis 2007 war er als Assistant Professor an der Wharton School of Business der University of Pennsylvania beschäftigt.

(c) Stephan Huger

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