„Sage, was ich für richtig halte“, Anastasia Tatulowa in einer der Anderson-Filialen.
Russland

Die Geschäftsfrau, die Putin überrumpelte

Anastasia Tatulowa ist eine der bekanntesten Unternehmerinnen Russlands. Als Kämpferin für KMU und gegen Bürokratie machte sie sich einen Namen. Die Coronakrise zerstörte beinah ihr Lebenswerk. Dann half ein Oligarch.

Anastasia Tatulowa ist keine Frau der leeren Worte. Wenn die Geschäftsfrau den Mund aufmacht, hat sie eine klare Botschaft. So war es auch bei dem Treffen mit Präsident Wladimir Putin im vergangenen März. Putin hatte Vertreter von Privatunternehmen in einen beigefarbenen Konferenzraum geladen. Die Veranstaltung sollte signalisieren, dass der Präsident die Sorgen der Geschäftswelt angesichts der herannahenden Coronakrise ernst nimmt. Ein bisschen zumindest.

Denn bekanntlich hat der Kreml-Chef recht große Vorbehalte gegenüber unabhängigen Unternehmern, die er beizeiten als „Schwindler“ bezeichnet. Staatsnahe Großkonzerne haben es ungleich leichter, Putins Aufmerksamkeit zu gewinnen. Ihre Vertreter werden in Einzelaudienzen empfangen. Die Unternehmer mussten gesammelt antreten. Wie bei Events dieser Art geläufig, übten sich die meisten Geschäftsleute im Small Talk, in Dankesreden und höflichen Fragen, die der Präsident mit länglichen Ausführungen beantwortete. Doch dann ergriff Anastasia Tatulowa das Wort. Tatulowa ist Inhaberin der Kaffeehauskette Anderson. Im März war sie Arbeitgeberin von rund 2000 Menschen. „Ich bitte Sie um Hilfe, ohne in Tränen auszubrechen. Es ist wirklich eine Tragödie“, so begann Tatulowa ihre vorher nicht abgesprochene Rede über die Lage der Privatunternehmer. „Man hat mir gesagt, ich dürfe nicht mit dem Präsidenten streiten. Aber jetzt muss ich es trotzdem tun.“

Es sind Worte gewesen, die Putin noch länger im Gedächtnis geblieben sind. Denn die 46-jährige Unternehmerin klagte ungeschönt über das Unverständnis vonseiten des Staates gegenüber der Privatwirtschaft und über ungerechte Belastungen für kleine und mittlere Unternehmen. Tatulowas Appell war dramatisch: „Was in den letzten Jahren mit uns passiert ist, hat dazu geführt, dass wir überhaupt keinen Sicherheitspolster mehr haben.“ Der Präsident hörte zu, nickte, versuchte zu relativieren und wünschte sich vermutlich ein baldiges Ende des Austauschs herbei. Das Gespräch zwischen der Geschäftsfrau und dem Kreml-Chef dauerte länger als zwölf Minuten.

Die Szene trug sich kurz vor dem Frühlingsshutdown in Russland zu, der die Gastronomie und große Teile des Einzelhandels für Wochen lahmlegte. Ihr Redebeitrag machte Tatulowa in Russland über Wirtschaftskreise hinaus bekannt. Tageszeitungen wollten die mutige Frau plötzlich interviewen, Lifestyle-Journale wollten sie porträtieren, sie, die sich selbst als „introvertiert“ bezeichnet. Tatulowas Profile in sozialen Medien wurden von Tausenden Usern aufgerufen. Geschäftskollegen bedankten sich bei ihr. Sie habe zeigen wollen, dass Unternehmer-Sein ein „ehrenwerter Beruf“ sei, sagt Tatulowa. Doch längst nicht alle Reaktionen waren positiv: Sie wolle sich doch nur selbst promoten, warfen ihr manche Stimmen vor. Dank ihres Engagements ist sie im Juli zur Ombudsfrau für Klein- und Mittelbetriebe ernannt worden, was freilich eine größtenteils symbolische Aufgabe ist. Immerhin: So kann Tatulowa sich quasi von Amts wegen zu den Fragen äußern, die sie bewegen. Wovon sie auch häufig Gebrauch macht.

Nicht gerade bequem. „Ich sage weiterhin, was ich für richtig halte. Bisher hat man mich noch nicht davongejagt.“ Das erklärt Tatulowa bei einem Treffen mit der „Presse am Sonntag“ an einem der letzten Tage des Jahres 2020. Mehrere Monate sind seit ihrem Auftritt vergangen. Die Tage sind kurz und der russische Winter hat Moskau fest im Griff. Schnee liegt auf dem Gehweg zum Anderson-Lokal nahe der U-Bahn-Station Taganskaja, das sie für das Gespräch vorgeschlagen hat.

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