Im Klopfstangen-Idyll

Grätzeltour.Mit Autorin Nadja Bucher durch die Großfeldsiedlung: Über den unverhofften Charme der alten Satellitenstadt – und darüber, was Heimito von Doderer und Mundl dort zu suchen haben.

Ich hatte in der Großfeldsiedlung eine schöne freie Kindheit“, erzählt die Autorin Nadja Bucher, die kürzlich ihren dritten Roman, „Die Doderer-Gasse“, publiziert hat. „Aber wohlgefühlt habe ich mich hier nie.“ Das lag nicht unbedingt am „eher rauen Klima zwischen den Kids, ich konnte immer schnell laufen“, sondern an der Lage und Architektur. 1966 bis 1973 erbaut, ist die Großfeldsiedlung im 21. Bezirk an der Grenze zu Niederösterreich mit 5516 Wohnungen einer der größten Gemeindebauten Wiens – und die erste sogenannte Satellitenstadt rein zu Wohnzwecken.

Viel Grün, viel Beton

Mächtige Plattenbauten prägen das Bild – dazwischen Siedlungshäuser, Reihenhäuser, ein Bad, zwei Kirchen. Vor der Don-Bosco-Kirche eine kleine selbst gebaute Krippe – Schulen, Kindergärten, Kleingärten und viel Grün. Und zwischen Klopfstangen, Einkaufswagenreihen und versperrbaren Mistplätzen Straßennamen wie Adolf-Loos-Gasse, Herzmanovsky-Orlando-Gasse oder Doderer-Gasse, die „meine Fantasie angeregt haben“, sagt Bucher. „Als ich mich mit Heimito von Doderers Werk beschäftigt habe, fand ich die Vorstellung erheiternd, wie sich der so auf Status bedachte Schriftsteller wohl dazu geäußert hätte, dass hier draußen, mit Sicht auf die Mülldeponie ,Weites Feld‘, eine kleine krumme Gasse zwischen Plattenbauten nach ihm benannt ist.“

Das Grün wird an diesem kalten Jännertag im dritten Lockdown kaum genutzt: Die Spielplätze sind leer. Dafür ist im kleinen Einkaufszentrum an der Kürschnergasse überraschend viel los – trotz geschlossener Geschäfte. Auch die Städtische Bücherei, „einer meiner damaligen Lieblingsplätze“, ist zu. „Und die Zoohandlung, vor deren Auslage ich stundenlang hätte stehen können, gibt es sichtlich nicht mehr.“ Das niederschwellige Angebot, sich in der Nähe Lektüre beschaffen zu können, war für Bucher, die später Kunstgeschichte und Germanistik studierte, ein Highlight. Denn in die alte Kaiserstadt war es nicht nur ideell und intellektuell ein weiter Weg – erst seit 2006 fährt die U1 bis hierher.

Innen hui, außen buh?

1966 war die Schaffung von modernem, günstigem Wohnraum angesagt – und die Architekten Peter Payer, Oskar Payer, Heinrich Matha, Matthias Lukas Lang, Johannes Lintl, Karl Leber, Peter Czernin und Harry Glück nahmen den Auftrag ernst. In mehreren Etappen planten sie großzügige Grundrisse, geflieste Bäder, moderne Küchen, Balkone und viel Grün. So eine Wohnung war um 1970 in den Gründerzeitvierteln kaum zu finden. Überhaupt, der Spittelberg, die Innenstadt und andere heutige Top-Adressen waren abgewohnt bis abbruchreif, die Altstadtsanierung steckte noch in den Kinderschuhen. Der Zeitgeist wurde etwa in der Serie „Mundl – Ein echter Wiener geht nicht unter“ eingefangen und ist auch heute noch Thema: „Erst kürzlich hat mir eine Dame erzählt, dass in den Blocks neben dem Einkaufzentrum ein Teil des ,Mundl‘ gedreht worden sei“, berichtet Bucher. So toll die Wohnungen, so latent das Unbehagen vieler. Denn modern war auch die Raumgestaltung: Der Abstand zwischen den Wohnblöcken wurde nach der Auslegerweite der Turmkräne berechnet, die Anzahl der Wohnungen durch die Vorfertigungstechnik festgelegt.

Im Vergleich zu Seestadt oder Nordbahnviertel muten diese Abstände heute extrem großzügig an. Das viele Grün, die gute Anbindung und der Sixties-Charme der originalen Straßenlampen, Stellplatzschranken und Kunstobjekte fällt Retro-Fans positiv ins Auge. Für Bucher kein Grund, wieder hier zu wohnen: „Je älter die Epoche, desto besser gefällt sie mir, das Barocke ist schon fast zu modern. Ich habe wohl einen großen Nachholbedarf an historischer Bausubstanz.“

ZUM ORT, ZUR PERSON

Die Großfeldsiedlung wurde von 1966 bis 1973 in mehreren Etappen für 50.000 Menschen erbaut, die U1 erschließt heute das Areal. Die Plattenbauten wurden im Norden Wiens auf dem „Großen Feld“ zwischen alten Siedlungshäusern errichtet.

Mietwohnungen kosten im 21. Bezirk in guter Wohnlage 8,20 bis 9,50 Euro/m2.

Nadja Bucher lebt als Schriftstellerin in Wien. Ihr drittes Buch, „Die Doderer-Gasse oder Heimitos Menschwerdung“, spielt in der Großfeldsiedlung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.01.2021)

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