Gastbeitrag

Das Dilemma der Expertenrolle

Die Sozialwissenschaft steht aktuell im Konflikt zwischen Ansprüchen der Medien und des Wissenschaftssystems.

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Wissenschaftliche Perspektiven waren im vergangenen Jahr so gefragt wie kaum zuvor. Das ist prinzipiell erfreulich. Für Sozialwissenschaftler ist die Teilnahme am öffentlichen Diskurs allerdings ein Unterfangen, das kaum zufriedenstellend zu bewerkstelligen ist.

Aus journalistischer Sicht sollen die Erkenntnisse möglichst klar und plakativ sein. Eine Medienlogik, die Antworten und Eindeutigkeit erwartet, lässt sich kaum mit dem Prinzip des Hinterfragens und Differenzierens vereinbaren. Das Dilemma, dass sich die Öffentlichkeit widerspruchsfreie Antworten von der Expertenrolle erwartet, wird in Österreich verstärkt durch die traditionell vorherrschende Intellektuellenfeindlichkeit. Zuspitzen und provokativ verkürzen wird als „Klartext reden“ angesehen, das abwägende Analysieren von komplexen Zusammenhängen hingegen als „unentschlossenes Geschwafel“.

Vorwurf Selbstvermarktung

Innerhalb der wissenschaftlichen Community kommt mitunter der Vorwurf, öffentliche Kommunikation sei zu verkürzt und würde die Seriosität des Fachs beschädigen. Das Urteil, eine Veröffentlichung sei „populärwissenschaftlich“, gilt dabei als Höchststrafe.
Von Kollegen wird man stellenweise belächelt, weil man sich dem gegenwärtigen Trend der Aufmerksamkeitssuche und Selbstvermarktung unterwerfe. Aus der Bevölkerung ist man mit Hass konfrontiert, der auf einer zunehmenden Wissenschaftsfeindlichkeit beruht oder – besonders bei Frauen – Abwertungen des Aussehens betrifft. Es ist also eine Aufgabe, die fachlich, sozial und persönlich einiges abverlangt. Neben der Fähigkeit, komplexe Sachverhalte verständlich zu vermitteln und in einer anregenden Art zu sprechen, braucht es auch Mut, sich auszusetzen, Geduld, Standpunkte immer wieder zu wiederholen, und eine Zähheit im Umgang mit persönlichen Untergriffen und Anfeindungen.

Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich viele diese Mühen nicht machen. „Das bringt mir nichts“, hört man von Kollegen. Und sie haben recht. Der Versuch, die selbstreferenzielle Kultur der Wissenschaft aufzubrechen, ist für den individuellen Karriereweg nicht förderlich oder kann diesen sogar gefährden. Dabei wäre es gerade in Zeiten schneller politischer Krisenreaktionen wichtig, das Prinzip der Kritik und des Hinterfragens hochzuhalten und dem Bedürfnis nach Eindeutigkeit differenzierte Perspektiven entgegenzusetzen. In anderen Worten: Es geht nicht nur darum, eine Informationsverantwortung wahrzunehmen, sondern auch darum, gesellschaftliche Fragen aufwerfen zu können, ohne eine explizite Antwort mitzuliefern.

Die Rolle der Sozialwissenschaft ist nicht, vielfach erhoffte Prognosen, individuelle Handlungsanweisungen oder alltagstaugliche Tipps schlagzeilentauglich bereitzustellen, denn das kann sie seriöserweise nicht. Sie kann jedoch Thesen formulieren, die verstehende Perspektive hochhalten und Ungewissheit kultivieren, ohne Bedrohungsszenarien zu schaffen.
Die Voraussetzung dafür ist, dass diese Form der Öffentlichkeitsarbeit medial stärker nachgefragt wird und im wissenschaftlichen Reputationssystem eine höhere Wertigkeit bekommt. Dafür müssen sich Medien und Hochschulen ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst werden und Maßnahmen ergreifen, die Wissenschaftskommunikation im Sinne einer aufgeklärten Gemeinwohlorientierung verstehen und anerkennen.

Dr. Laura Wiesböck (* 1987) ist Soziologin und Publizistin in Wien. 2018 erschien ihr Buch „In besserer Gesellschaft. Der selbstgerechte Blick auf die Anderen“ (Kremayr & Scheriau).

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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