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„The White Tiger“: Im Kerker der indischen Kasten

Der weisze Tiger
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Ein neuer Netflix-Film erzählt vom Versuch eines jungen Mannes, der indischen Unterschicht zu entkommen. Aufwühlend – wenn nur die Offstimme nicht wäre.

Die westliche Vorstellung von Indien ist nach wie vor von Extremen geprägt: prachtvolle Paläste und schmutzige Slums, spirituelle Erleuchtung und materieller Exzess, gewaltloser Widerstand und brutaler Überlebenskampf. Auch das Kino spiegelt diese Widersprüche wider. Auf der einen Seite stehen selige Ashram-Entspannung in Selbstfindungsstreifen wie „Eat Pray Love“ oder der wohlmeinende Kunstfilm-Orientalismus von Jean Renoir in „The River“. Auf der anderen müssen Städte wie Mumbai in Actionknallern wie „Extraction“ für pikante Schreckensvisionen einer ruch- und rechtlosen Welt herhalten.

Daher hat es ein Film, der sich anschickt, uns das wahre Gesicht Indiens zu offenbaren, nicht leicht – tappt er doch automatisch in die offene Schublade kulturpessimistischer Herablassung, selbst wenn sein Ansinnen (relativ) frei davon ist. Deshalb sollte man seine persönlichen Indien-Bilder mental verräumen, bevor man sich „The White Tiger“ ansieht. Das soeben auf Netflix gestartete Filmdrama hebt sich im Kern nämlich vom Klischee eines oberflächlichen Schwellenland-Albtraums ab – obwohl seine Gesamterscheinung ebendiesem entspricht.

Wie die Buchvorlage, für die Aravind Adiga 2008 den britischen Man-Booker-Preis gewann, folgt der Film der rückblickenden Erzählung des Erfolgsunternehmers Balram (stark: Adarsh Gourav). Anlässlich eines Besuchs des einstigen chinesischen Premierministers Wen Jiabao formuliert er eine Art bekenntnislyrischen Bewerbungsschreibens – um den Schulterschluss zwischen „braunen und gelben“ Menschen voranzutreiben, denen die Zukunft gehöre. Und berichtet von seinem Lebensweg: Balrams abgebrüht-sarkastische Offstimme läuft fast durchgehend mit.

Dann schlägt die Stimmung um

Als Landbub muss er trotz Talent früh die Schule verlassen, um seiner armen Familie auszuhelfen. Bevor die Großmutter ihn per arrangierter Heirat an die Scholle binden kann, gelingt es ihm, beim örtlichen Kohlemagnaten als Chauffeur anzuheuern. Hier macht Balram die Bekanntschaft von Ashok (Rajkummar Rao), dem in den USA geschulten Sohn des Hausherren, und seiner Frau, der selbstbewussten Pinky (Priyanka Chopra). Die westlich-liberalen Einstellungen der beiden, die sich redlich bemühen, Balram wie einen Menschen zu behandeln, machen dem Emporkömmling Hoffnung. Doch die Klassen- und Kastenkluft ist unüberbrückbar – und nach einer folgenschweren Schicksalsnacht schlägt Balrams ergebene Dankbarkeit in Verachtung um.

Damit auch die Stimmung des Films: Wo er zuvor noch im Modus einer bissigen Gesellschaftssatire aus Sicht eines sozialen Aufsteigers voranpreschte, rumort nun ein düsteres Psychodrama über das Fegefeuer der Herr-Knecht-Beziehung im Geiste von Joseph Loseys „The Servant“.

Ähnlichkeiten mit „Parasite“

Schon davor drängt sich der Vergleich mit Bong Joon-hos südkoreanischem Cannes- und Oscar-Sieger „Parasite“ auf. In beiden Filmen geht es um Mechanismen, die Ungleichheiten erhalten. Die vielfältigen Ausprägungen von Klassentrennung und Konkurrenzkampf werden präzise skizziert: Reiche weilen im Luxushotel, ihre Fahrer in der Parkgarage. Hier duftendes Parfüm, dort unappetitlicher Gestank. Um zum Oberchauffeur befördert zu werden, denunziert Balram seinen Nebenbuhler als Muslim. Als Ashok den Neuen fragt, ob er je vom Internet gehört hat, antwortet dieser: „Nein, aber ich kann sofort zum Markt fahren und ihnen so viele davon bringen, wie sie wollen!“

Seine eigentlichen Stärken entfaltet „The White Tiger“ aber erst im zweiten, psychologischen Teil, der im Vergleich zu „Parasite“ weit mehr auf emotionale Intensität als auf ausgeklügelte Erzählmechanik setzt. Wenn Balram sich wild die Zähne schrubbt, um seinen Mundgeruch loszuwerden, wenn er mit gequältem Lächeln die Jovialität und das Selbstmitleid seines „Meisters“ erträgt, wenn sich seine Wut an einer alten Bettlerin entlädt – dann werden der Schmerz der angeborenen Ausgrenzung und das Ringen mit der eingetrichterten Sklavenmentalität fühlbar. In diesen Szenen scheint auch die ungeschliffene Handschrift des iranischstämmigen US-Regisseurs Ramin Bahrani durch, der Anfang der Nullerjahre mit empathisch-realistischen Sozialdramen (z. B. „Chop Shop“) für Aufsehen sorgte – und zuletzt Ray Bradbury adaptierte („Fahrenheit 451“).

Gedämpft wird das aufwühlende Geschehen nur vom Offkommentar: ein bitter-zynischer Sprachmantel, den der Film bis zum Ende nicht ablegt. Da heißt es frei nach Brecht: „Wenn ich in Indien das Sagen hätte, würde ich mich erst um die Abwasserleitungen kümmern – und dann um die Demokratie.“ Oder, in Anspielung auf Danny Boyles Kinomärchen „Slumdog Millionaire“: „Glauben Sie ja nicht, dass es in dieser Welt einen Ausweg per Game Show gibt!“ So ein Begleittext passt zwar zum Protagonisten, führt aber letztlich zur Erstarrung im gleichen Verkommenheitsklischee, dem Bahrani sein schneidendes Sittengemälde und seine kraftvolle Charakterstudie entgegensetzen will. Und schmälert die Wahrscheinlichkeit, dass die westlichen Zuseher die globale Problematik hinter dem Gezeigten erkennen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.01.2021)

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