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Emily Dickinson, die hipste Poetin der 1850er

Emily Dickinson (Hailee Steinfeld) ist verliebt – in den Tod persönlich (Wiz Khalifa).
Emily Dickinson (Hailee Steinfeld) ist verliebt – in den Tod persönlich (Wiz Khalifa). Apple TV+
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So ein Weirdo! „Dickinson“, gerade in die zweite Staffel gegangen, spürt der großen amerikanischen Dichterin nach, die zu Lebzeiten kaum etwas veröffentlicht hat – und ist dabei herrlich anachronistisch, wild und surreal.

Der Tod fährt in der Pferdekutsche vor. Jede Nacht halten die mächtigen Tiere aus fließenden weißen Rauchschwaden vor dem Anwesen der Dickinsons in Amherst, Massachusetts. Warum er immer so lang brauche, fragt Emily (gespielt von Hailee Steinfeld), nachdem sie dem Tod gegenüber Platz genommen hat.

Er sei sehr beschäftigt, antwortet er (der Rapper Wiz Khalifa) und lässt seinen Goldzahn blitzen. Emily lehnt sich an seine Schulter. Sie ist in den Tod verliebt, wird sie später dem Verehrer sagen, der vergeblich um ihre Hand anhält. „He's such a gentleman. And sexy as hell!“ Der Verehrer antwortet bewundernd: „You're such a weirdo!“

War sie das, die echte Emily Dickinson – ein Weirdo, eine Spinnerin, ein Sonderling? Die Serie „Dickinson“ sei erstaunlich nah an der Wahrheit, meinen Literaturhistoriker (und die Serienschöpferin, Alena Smith, behauptet, jede existierende Biografie gelesen zu haben). Das ist insofern spannend, als die Produktion, die auf dem Streamingdienst Apple TV+ zu sehen ist, sich Mühe gibt, die große amerikanische Poetin auf nahezu unverschämte Weise neu zu porträtieren – und sie ihrer Zeit, den 1850er-Jahren, die hier detailfreudig rekonstruiert sind, gleichsam aufs Wildeste zu entrücken.

Todessehnsucht und Opiumrausch

Und so entführt „Dickinson“ in eine beschauliche Kleinstadt vor dem dräuenden Sezessionskrieg, in der die Jugendlichen den Slang und die popkulturellen Codes des 21. Jahrhunderts beherrschen, in der bei Hauspartys im Opiumrausch munter getwerkt wird, in der als Influencer gilt, wer die exklusivsten Salons veranstaltet, und in der der Charles-Dickens-Fortsetzungsroman „Bleak House“ die Gespräche beherrscht – nur ja nicht spoilern!
Von einer krampfhaften Modernisierung kann hier aber keine Rede sein: Die ausschweifenden Anachronismen fügen sich nämlich nahtlos ein in eine ebenso wilde wie verspielte Inszenierung, die die Gedichte und (Alb-)Träume von Emily Dickinson zum Leben erweckt – zu Billie Eilish und Hip-Hop-Klängen. Dann tanzt die junge Poetin plötzlich mit einer überdimensionalen Biene, platzt aus einem samtgefütterten Sarg in ihr eigenes Begräbnis („I felt a funeral in my brain“ lautet ein Vers) oder steigt eben zum Quiqui in die Kutsche: „Because I could not stop for Death / He kindly stopped for me“, beginnt ein Gedicht, das eine Stadtrundfahrt mit dem Tod imaginiert.

Die romantisierte Todessehnsucht, die Dickinson oft zugeschrieben wird, bekommt ihren Raum in der Serie, wenn auch mit Humor – auf den Ausspruch „Was für eine schöne Beerdigung“ antwortet Emily in einer Szene: „Meine wird besser.“ Darüber hinaus wird hier eine vielschichtige, faszinierende Person voller Widersprüche gezeichnet: Eine rastlose Schreiberin, berauscht von der eigenen Kreativität, die ihre vollgekritzelten Zettelchen in der Wäschetruhe versteckt; eine eigenwillige Freiheitskämpferin, die gegen ihre Benachteiligung als Frau rebelliert, aber kein Interesse an Politik zeigt; eine feinsinnige, komplizierte Künstlerseele, die nach Perfektion strebt und die weltlichen Anstrengungen ihrer Mitmenschen wie aus einer anderen Sphäre beobachtet. Diese Emily ist egozentrisch, verträumt, fordernd, kompromisslos. Und Hailee Steinfeld spielt sie mit schelmischer Energie – wie ein Kind, das immer wieder von sich selbst überrascht ist.

Dickinson (1830–1886) lebte bis zu ihrem Tod in ihrem Elternhaus, zuletzt immer zurückgezogener. Sie hinterließ rund 1800 Gedichte, von denen aber nur zehn zu ihren Lebzeiten veröffentlicht wurden. Eine anständige Frau publiziert nicht, schärft ihr der Vater in der Serie ein, während die Mutter (Jane Krakowski als neurotische Super-Hausfrau) einen Hochzeitskandidaten nach dem anderen in den Salon lädt. Emily treibt sie alle mehr oder weniger charmant in die Flucht: Sie will nicht heiraten, sie will frei sein, denken und schreiben.

Ist Ruhm gefährlich?

Die kürzlich angelaufene zweite Staffel, die noch besser ist als die erste (neue Folgen erscheinen jeden Freitag), dreht sich nun um Emilys Argwohn, was Ruhm und Erfolg angeht. Ein Dämon in ihrem Kopf warnt sie davor, ihre Gedichte zu veröffentlichen – hat er gar recht? Ihre Schwägerin Sue (Ella Hunt), zu der Emily eine romantische Verbindung pflegt, drängt sie indessen ins Rampenlicht. Und der Tod? Der war diesbezüglich schon in der allerersten Folge gelassen: „Publicity isn't the same thing as immortality.“

Er hat auch gesagt, dass Emily in 200 Jahren die einzige Dickinson sein würde, über die die Welt noch spricht. Die Dichterin weiß quasi schon um ihre spätere Bedeutung. So wie auch die anderen Figuren reden, als könnten sie bereits mit dem Wissen kommender Generationen auf ihre Zeit zurückblicken. (Ein indigener Matrose, auf seine Existenz angesprochen, erklärt etwa lapidar, dass es tatsächlich viele „Native American sailors“ in seiner Epoche gibt.) Ja, großspurig ist diese Serie schon. Aber sie ist zugleich erfüllt von Dickinsons mysteriöser Poesie – und sie hört nicht auf, zu überraschen.

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