Artotheken

Kunstsinniges Leihwesen: "Wenn man Kunst bloß anprobieren könnte"

Probewohnen mit Kunstwerken, aber ohne großen Kostenaufwand – das ermöglicht das Angebot öffentlicher Artotheken.

Leere Wände taten noch nie so weh wie in den letzten Monaten. Kein Wunder, dass der (Online-)Kunstmarkt im Quarantäne-Blues boomte. Schön(er) zu wohnen wurde im vergangenen Jahr wichtiger denn je; umso bewusster blickten viele auch auf das, was sie sich an die Wand hängen, oder was da eben fehlte. Doch auch wenn der Entschluss gefallen ist, sich Kunst zu kaufen – nicht jeder kann sich sein Wunschkunstwerk leisten. Hinzu kommen Barrieren wie die Frage, wo man denn überhaupt anfangen soll mit dem Kunstkauf?

Welcher Preis ist gerechtfertigt, wann wird Kunst zum Investment, und will man lieber junge, aufstrebende Künstler unterstützen oder wählt man bewusst große Künstlernamen als solide Anlagewerte? Geht man das Risiko einer Auktion ein oder verlässt man sich auf die Expertise eines Galeristen? Welcher Aspekt ist wichtiger – Investment oder Geschmack, oder findet man im Idealfall vielleicht eine Symbiose dieser beiden Ansätze?

Linda Berger © Bildrecht, Wien, 2020
Tamara Rametsteiner / Galerie Krinzinger Wien © Bildrecht, Wien, 2020

Probemodus. Wenn man Kunst bloß anprobieren könnte. Das Leben mit ihr auf Zeit und ohne finanzielles Risiko austesten könnte. Und siehe da: Das geht! Zahlreiche Artotheken bieten im Zusammenschluss mit den Sammlungen der österreichischen Bundesländer Kunst auf Zeit gegen vergleichsweise geringe Leihgebühren an. Das Wort „Artothek“ beschreibt dabei ein Kunstdepot, das sich öffnet und seinen Katalog zum Verleih freigibt.

Das Prinzip kennt man von Bibliotheken, und es geht historisch tatsächlich auch auf die Zeit zurück, als Anfang des 19. Jahrhunderts der Kunst- und Buchhandel noch ein gemeinsamer Gewerbezweig waren, wo das Verleihwesen gepflegt wurde. Im 20. Jahrhundert besann man sich an mehreren Orten dieser Praxis, so wird bespielhaft schon seit über 40 Jahren in Wien, am Standort Wien Museum Musa, eine Artothek betrieben. Auf Initiative des damaligen Kulturstadtrats Helmut Zilk eröffnete 1979 die Artothek in Wien, sie ist die drittälteste derartige Einrichtung im deutschsprachigen Raum – nur Berlin und Köln waren der Wiener Stadtverwaltung voraus. Derzeit sind rund 1700 Werke in der Musa Artothek offen für den Verleih. „Davon sind etwa 100 Werke ständig unterwegs“, berichtet Michaela Nagl, Ansprechpartnerin für Belange der Musa Artothek. Auch 2020 lief der Leihverkehr gut, ausgesprochen sogar, wie sie berichtet. „Im Juli, nach der Wiedereröffnung, wurden wir regelrecht gestürmt. Die Leute haben absolut Bedarf nach Kunst“, so Nagl.
Nicht nur verführt das Musa mit kostenlosem Eintritt, ein großer Vorteil der Artothek gegenüber einem anderen Museumsbesuch ist, dass Besucher selbstständig durch die Schiebewände stöbern dürfen und der Kunst so wirklich nahekommen. „Man kommt einfach he­rein und kann sich umschauen. Eine Woche reservieren wir auch. Doch sobald die Besucher vor den Schiebewänden stehen, lassen sie sich meistens ganz von selbst begeistern und borgen auch gern etwas aus.“ Leihende entdecken auch immer wieder eine Freude darin, mehrere Kunstwerke zusammenzustellen, wie Nagl erzählt, so kann jeder zum Kurator der Bildwände im eigenen Zuhause werden – und das wie im Museum mit Wechselausstellungen. 2,50 Euro pro Bild und Monat beträgt die Leihgebühr der gerahmten Grafiken der Musa Artothek, eine Versicherung bereits miteingeschlossen, so kann auch günstig öfter getauscht werden. Bis zu vier Bilder als Privatperson, oder zehn Bilder als Firma, darf man für maximal zwölf Monate mit nach Hause nehmen. Wobei die Werke nach einer zweiwöchigen Pause, und so noch verfügbar, auch nochmals verlängert geliehen werden können. Immer wieder kommt es außerdem vor, dass sich Leihende „nur schwer wieder trennen können“, so Michaela Nagl. Größen der Sammlung, wie eine Arbeit von Maria Lassnig oder Werke von Arnulf Rainer und Herbert Brandl, sind besonders begehrt und nahezu durchgängig vergriffen.

Sandro e. e. Zanzi

Prinzipiell geht es der Artothek aber um ein Prinzip der Fluktuation. Die Bestände der Landes- und Bundessammlungen sollen nicht im Depot in Vergessenheit geraten, sondern erlebbar bleiben, so der Grundgedanke. Manche Stammkunden hätten bereits Rituale entwickelt, berichtet Nagl: So gebe es Partner, die abwechselnd Kunst aussuchen, und einen älteren Kunden, der bei jeder Entleihung einen Bildbesprechungszirkel mit Freunden abhält. Andere wieder hätten bereits feste Nägel in ihren Wohnungen, zugeschnitten auf die beiden in der Musa Artothek verfügbaren Formate – 85 mal 65 Zentimeter oder 50 mal 65 Zentimeter: Gute Abmessungen, um die Werke auch elegant mit der U-Bahn sicher nach Hause bringen zu können. Grundsätzlich sollen die Wiener Bestände nämlich an in Wien und Wien Umgebung lebende Kunstfreunde verliehen werden. In vielen Bundesländer-Artotheken, eben auch in Wien, muss beim Erstverleih entsprechend ein Meldezettel vorgelegt werden. So setzen sich einerseits die Sammlungen vorrangig aus Kunst von Künstlern des eigenen Bundeslandes zusammen, und sie sollen andererseits auch Interessierten im eigenen Bundesland zugute kommen.

Repräsentative Auswahl. Auf anderer Ebene unterhält auch der Bund eine umfassende Artothek, bestehend aus über 37.000 Werken aller Sparten bildender Kunst. Seit 1948 werden laufend Arbeiten angekauft, es geht darum, das Kunstgeschehen Österreichs zu dokumentieren, so sollen junge Positionen ebenso Teil der Sammlung sein wie etablierte Größen. Auch in den letzten Jahren wächst der Bestand durch die laufende Ankaufstätigkeit der Kunstsektion im Bundeskanzleramt weiter. Seit rund zehn Jahren wird die Sammlung administrativ vom Belvedere verwaltet und befindet sich im Belvedere 21. Die Kunstwerke der Sammlung sollen den Zweck einer Repräsentation der Republik erfüllen. So stehen die Sammlungsobjekte für die Ausstattung und Aufwertung der Repräsentationsräumlichkeiten, etwa im österreichischen und europäischen Parlament, in der europäischen Kommission in Brüssel sowie in Büros der Bundesdienststellen im In- und Ausland, zur Verfügung. Bundesbedienstete können sich aus den Datenbanken Wunschobjekte für die Ausgestaltung ihrer Räumlichkeiten auswählen und sie über die Artothek leihen. „Der Bestand der Artothek des Bundes ist äußerst divers von Frühwerken heute etablierter Kunstschaffender bis zu sehr jungen Positionen. Die Sammlung besteht aus klassischen Gemälden und Grafiken über Skulpturen, Objekte unterschiedlichster Materialien sowie Installationen, Fotografien und Videos.

Eva Würdinger, 2018

Somit bietet die Artothek des Bundes einen sehr guten Überblick über das Kunstschaffen in Österreich“, so Claudia Baumann, die für die Einrichtung arbeitet. Nicht nur wurden im Jahr 2020 ganze 93 Werke neu angekauft – darunter etwa Arbeiten von Hanakam & Schuller und Linda Berger –, sondern aktuell sind auch einige Werke aus der Artothek des Bundes in Ausstellungsprojekten vertreten. Bis April 2021 ist zum Beispiel eine Grafik von Florentina Pakosta in einer Schau des Museums der Moderne Salzburg zu sehen, bis Mai 2021 ist eine Arbeit von Maja Vukoje in der Einzelausstellung der Künstlerin im Belvedere 21 vertreten. Zwei Arbeiten von Siegfried Strasser werden vom 23.  April bis 3. Oktober 2021 im Stadtmuseum Wels ausgestellt sein. Ein Walk-in-Prinzip verfolgt die Artothek des Bundes, im Gegensatz zu den Bundesländerangeboten, nicht, sie ist offiziellen Leihverfahren vorbehalten.

Die Bundesländer offerieren indessen zahlreiche Angebote, auch solche für Kunstliebhaber mit speziellen Interessen. Eine gute Anlaufstelle für Freunde der Fotografie war lang die Artothek des Salzburger Fotohofs, die künftig aber nicht mehr zur Verfügung stehen wird. Nach über zehn Jahren, so die Verantwortlichen in einem Statement, seien „mittlerweile neue zeit- und kraftintensive Schwerpunkte entstanden, (. . .) die eine stärkere Fokussierung unserer Ressourcen nötig gemacht haben“. Mit der nächsten Aktualisierung der Website soll die Fotohof-Artothek vom Netz genommen werden. Das ist auch deshalb schade, weil praktische Tipps wie der folgende für das Aufhängen von Kunst dann nicht mehr zur Verfügung stehen werden: „Suchen Sie in Ihrer Wohnung eine nicht der direkten Sonneneinstrahlung ausgesetzte Wand. Hängen Sie eine Serie mit einem Abstand von 10 bis 15 cm. Bei unterschiedlichen Formaten orientieren Sie sich entweder an der Rahmenober- oder -unterkante.“

Klaus Pichler © Wien Museum

Leihgeschichten. Mit praktischen Anwendungstipps wie diesen, den attraktiven Leihgebühren, der umfassenden Auswahl und der bürokratisch sehr einfachen Handhabung sowie dem soliden Versicherungssystem der Artotheken können wirklich alle, die das möchten, mit Kunst leben. Es lohnt sich, über spezielle Angebote in den Bundesländern informiert zu sein. So stellt die Artothek Steiermark etwa jährlich eine Ausstellung im Joanneumsviertel mit Werken aus der Artothek zusammen. Die Artothek Krems, besuchenswert situiert in der ehemaligen Eyblfabrik auf der Kunstmeile Krems, erzählt via Social Media in „Homestories“ die Erlebnisse der Leihenden mit dem Kunstbesitz auf Zeit (siehe #ArtoAtHome bzw. #kunsteinfachleihen). In Tirol kann zwei Mal jährlich geliehen werden, und die Artothek der Kunstsammlung des Landes Oberösterreich offeriert, ebenso wie einige andere Standorte, Gutscheine als Geschenk – so kann die Kunst noch in den einen oder anderen Haushalt weiterreisen. Leere Wohnzimmerwände müssen bei diesen Angeboten tatsächlich nicht sein

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