Paradox: Die Befragten mit den größten Vinyl-Sammlungen lehnten den Begriff des Sammlers für sich ab.
Ethnologie

Musik sammeln? Ich doch nicht!

Die Digitalisierung hat das Sammeln von Musik verändert. Aus Jägern nach raren Schallplatten wurden Kuratoren erlesener Playlists. Doch ob gestreamt oder analog, die eigene Musikauswahl kreiert Gemeinschaft und stiftet Sinn.

Früher zogen Ethnografinnen und Ethnografen hinaus in die Ferne, um fremde Alltagswelten zu studieren. Heute rückt zunehmend das Eigene in den Vordergrund ihrer Studien, wenn sie vertraute Praktiken in ihrem Umfeld untersuchen. Eine solche Praxis ist das Sammeln von Musik. Ihr hat Christian Elster vom Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien ein Buch gewidmet. Schallplatten, CDs, Playlists auf Streamingplattformen – es gibt heute viele verschiedene Möglichkeiten, Musik zu horten.

„Hinter der vordergründigen Praxis des Sammelns steckt viel mehr, sie kann uns viel über Identitätsarbeit von Menschen erzählen“, betont Elster, der sich mit kulturwissenschaftlicher Technikforschung beschäftigt. „So wie man mit einem prall gefüllten Plattenregal wunderbar seinen Geschmack nach außen hin repräsentieren kann, kann man auch eine Playlist beim Streamingdienst Spotify kuratieren und mit seinen Freunden teilen. In beiden Fällen macht man deutlich, wo man sich verortet und wo man andockt.“

Auf dem Flohmarkt forschen

Elster betrieb für seine Untersuchung ethnologische Feldforschung par excellence: Er führte 20 Interviews und an die 30 informelle Gespräche, begab sich als teilnehmender Beobachter in Schallplattenläden und auf Flohmärkte und besuchte Sammlerinnen und Sammler von Popmusik zu Hause.

Pop versteht der Forscher dabei weniger lediglich als Genre, sondern viel weiter gefasst – als kulturelle Sphäre für Identitätsspiele und utopische Ideen, als eine Welt der Verheißungen und des Vergnügens. Durch ihre Offenheit und Zersplitterung eignet sich die Musik ideal als entsprechende Projektionsfläche. In seinem Buch zeigt Elster, wie sich die technischen Möglichkeiten rund ums Musikhören und -sammeln in den vergangenen Jahrzehnten verändert haben, bestimmte Praktiken jedoch nur in ihrem Wesen nach außen hin. „Keine Frage, die Digitalisierung hat große Bereiche unseres Alltags umgekrempelt, gleichzeitig ist der Umgang mit Musik derselbe geblieben“, erklärt der Ethnologe. Die Menschen würden zwar wie im analogen Kontext auch im digitalen sehr unterschiedlich sammeln, räumt er ein. Aber es gebe übergeordnete Gemeinsamkeiten und soziale sowie kulturelle Prägungen, wie gesammelt wird.

„Durch das Sammeln von Musik stellen wir Ordnung her, wir verleihen unserem Leben Sinn, bilden mit den einen eine Gemeinschaft und grenzen uns von den anderen ab.“ Die musikalische Sozialisation wird dabei nicht selten als eine Geschichte der Verfeinerung des eigenen Geschmacks erzählt, die im „Soundtrack des Lebens“ Ausdruck findet. Diese Praktiken blieben trotz digitaler Revolution bestehen. „Das Revival von Vinyl vor etwa zehn Jahre zeugt darüber hinaus davon, dass nicht ein Medium das andere ablöst. Bestimmte Formate existieren parallel. Ich habe zum Beispiel mit keinem Vinylsammler gesprochen, der nicht auch digitale Formate zum Musikhören nutzt.“

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