Quergeschrieben

Der Mensch vermag mehr, als Rechenmodelle sagen können

Trotz Verdreifachung des Verkehrs sind die Opferzahlen dank Erfindergeist und effektiven Maßnahmen niedrig wie nie.

Es war in der Volksschule, Anfang der 1970er-Jahre. Innerhalb einer Woche kamen die Väter von zwei Klassenkollegen bei Verkehrsunfällen um. Viele Wochen saßen sie stumm und verstört in der Klasse. Dieses tragische Ereignis löste bei allen Kindern Verstörung und Angst aus, dass auch der eigene Papa bei einem Unfall sterben könnte.

Das Jahr 1972 markierte den traurigen Höhepunkt in der heimischen Unfallstatistik: 2948 Menschen kamen damals ums Leben. Heute, fast ein halbes Jahrhundert später, gibt es wieder einen Rekordwert, nämlich den niedrigsten seit damals. Selbst 2019, einem Jahr ohne Lockdowns, waren es „nur“ 410 Opfer. Das ist eine erfreuliche Nachricht!
In den 1970er-Jahren nahm man die erschreckend hohe Zahl an Unfallopfern zum Anlass, neue Konzepte zu entwickeln. Man setzte nicht nur auf eine einzige Strategie, sondern auf ein Bündel an Maßnahmen. Besonders unfallträchtige Stellen wurden entschärft, etwa mit baulich getrennten Fahrbahnen, Zebrastreifen oder Verkehrsspiegeln. Die Tempolimits wurden reduziert und vermehrt kontrolliert, die Promillegrenze bei Alkohol wurde gesenkt und gefährliche Kreuzungen wurden entschärft. Und man suchte die Zusammenarbeit mit der Automobilindustrie, wo an einer besseren Sicherheit der Fahrzeuge gearbeitet und geforscht wurde: Es wurden Kopfstützen und Sicherheitsgurte eingebaut, später dann wurde der Airbag entwickelt. Mittels sogenannter Crashtests überprüfte man neue Modelle auf ihre Sicherheit. Später kamen noch Sensoren und computergesteuerte Fahrsicherheitsassistenten dazu.

Hätte man 1972 Berechnungen für die Zeit in 50 Jahren angestellt, wäre man niemals auf diese geringe Zahl an Verkehrstoten gekommen. Denn in diesem Zeitraum wuchs die Bevölkerung von 7,5 auf neun Millionen Menschen an, die Zulassungen haben sich fast verdreifacht. Dazu kam die Grenzöffnung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Transitverkehr, dadurch stieg das Verkehrsaufkommen zusätzlich. Also hätte man rein statistisch etwa mit einer Verdoppelung oder Verdreifachung der Unfallopfer rechnen müssen. Somit hätten wir heute 6000 bis 9000 Tote jährlich zu beklagen. Es kam aber völlig anders.
Der beeindruckende Erfolg bei der Reduzierung der Verkehrstoten ist ein gutes Beispiel dafür, dass Mathematik und Rechenmodelle allein nicht die Zukunft abbilden können. Sie sind eben Modelle. Die Realität ist wesentlich komplexer, der Faktor Mensch vermag viel mehr als jedes mathematische Modell. Letztlich geht es um Kreativität und neue Strategien. So hat der Mensch immer schon neue Gefahren bannen können und sein Überleben als Spezies gesichert.

Wie ist man damals vorgegangen? Man hat nicht den Verkehr lahmgelegt und das Autofahren verboten. Man hat keine Ausgangssperren verordnet, damit niemand mehr verunglücken kann. Das hätte zwar kurzfristig die Zahl gegen null gedrückt, aber es wäre nicht durchzuhalten gewesen. Die Wirtschaft wäre eingebrochen, die Menschen hätten ihre täglichen Wege nicht erledigen können, es wäre zu einer schweren Krise gekommen. Aber gelöst hätte es das Problem nicht.

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