Gastkommentar

Mitteleuropa als aufstrebende Gemeinschaft

Warschau
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Hinter uns liegt ein langer Weg. Von einem Landstrich, der im Bewusstsein der weltweit wichtigsten Akteure kaum vorhanden war, entwickelten wir uns zu einer Region, die sich im globalen Vergleich mit am dynamischsten entwickelt und den Ehrgeiz hat, als einer der zivilisatorischen Mittelpunkte zu gelten.

Andrzej Duda (*1972) ist seit 2015 Staatspräsident der Republik Polen.

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Wir stehen auf der Schwelle zu einem neuen Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Einem Jahrzehnt voller Unsicherheit, insbesondere aufgrund der weltweiten Pandemie und ihrer wirtschaftlichen Folgen, aber auch einem Jahrzehnt voller Hoffnung – voller Chancen auf einen zivilisatorischen und wirtschaftlichen Aufbau, auf eine bessere, gerechtere, umweltfreundlichere, nachhaltigere Welt als jene, die wir bisher kannten.

Wir suchen, wenn wir in die Zukunft blicken, nach Regionen, die zu Mittelpunkten für dynamische, positive Veränderungen werden können. Ich bin sicher, dass Mitteleuropa dazu gehören wird – sowohl im europäischen als auch im globalen Maßstab.

»Mitteleuropa ist eine Schicksalsgemeinschaft, die sowohl eine geografische, politische und wirtschaftliche als auch eine ideelle und kulturelle Dimension aufweist. Wir tragen in die Zukunft weiter, was wir aus unseren Erfahrungen gelernt haben.«

Mitteleuropa bzw. Mittelosteuropa (diese beiden Bezeichnungen werden oft synonym verwendet) ist eine bedeutende Region – eine Schicksalsgemeinschaft, die sowohl eine geografische, politische und wirtschaftliche als auch eine ideelle und kulturelle Dimension aufweist. Hinsichtlich der Lage auf der Landkarte handelt es sich um das Gebiet zwischen der Ostsee, der Adria und dem Schwarzen Meer – oder auch (sehr vereinfacht gesagt) zwischen Deutschland und Russland. In erster Linie bilden wir aber einen gemeinsamen Erinnerungskreis.

Wir teilen ähnliche geschichtliche Erfahrungen, vor allem im Hinblick auf das dramatische 20. Jahrhundert. Wir haben unter zwei totalitären Systemen, dem brauen und dem roten, gelitten, von denen wir unterdrückt und verfolgt wurden. Gemeinsam sind uns aber auch großartige, ruhmreiche Erfahrungen aus weiter zurückliegenden Epochen – im 15., 16. und 17. Jahrhundert, dem Zeitalter, in dem von einem „Europa der Jagellonen“ und später von Polen als Vielvölkerrepublik die Rede war, war es in weiten Teilen dieser Region gelungen, eine auf Basis der Freiwilligkeit gegründete politische Union zu schaffen – die Vorgängerin der heutigen Europäischen Union: ein freundliches Zuhause für zahlreiche Kulturen und Religionen, in dem die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der parlamentarischen Demokratie regierten. Wir tragen in die Zukunft weiter, was wir aus den damaligen guten und bösen Erfahrungen gelernt haben – als universelle Warnung, aber auch als Inspiration zu einem Handeln, bei dem das Gemeinwohl, das Wohlergehen unserer Region und des gesamten vereinten Europas die oberste Priorität hat.

Das „entführte Abendland"

Genauso wichtig ist es, Mitteleuropa als eine Gemeinschaft der Werte zu beschreiben. Indem wir seit mehr als tausend Jahren dem abendländischen Kulturkreis angehören, teilen wir dessen ideelle Grundlagen. Milan Kundera bezeichnete Mitteleuropa einmal sehr eindrücklich als das „entführte Abendland“, d.h. als denjenigen Teil der westlichen Kulturgemeinschaft, der gegen seinen Willen sowjetisch unterjocht wurde – unterdrückt im Sinne eines imperialen, autoritären Regierens und eines der Rationalität unfähigen Wirtschaftens. Dass wir an Werten, auf denen die europäische Kultur aufgebaut wurde, hängen, heißt jedoch nicht, dass wir sie gedankenlos übernehmen. Besser als andere kennen wir den Preis, den ihre Verteidiger zahlen müssen. Wir sind uns dessen bewusst, dass man diese Werte zu pflegen hat, dass Freiheit mit Verantwortung, Rechte mit Pflichten, Individualismus mit Solidarität, kritisches, innovatives und modernes Denken mit der aktiven Bemühung um unser Erbe und um unsere identitätsstiftende Tradition in Einklang zu bringen sind.

Zu Beginn des Umbruchs im Jahr 1989 schrieb Timothy Garton Ash, dass Mitteleuropa als Idee den Westen aus Kalter-Krieg-Denkgewohnheiten reiße, dass es tradierte Begriffe und Prioritäten herausfordere, aber an ihrer Statt auch etwas zu bieten habe. Diese Sicht scheint ihre Aktualität bis heute bewahrt zu haben, da Länder Mitteleuropas als Mitglieder der EU und der Nato einen wichtigen, festen Bestandteil der europäischen und der atlantischen Ordnung darstellen und da unsere Region, die sich eines gefestigten Wirtschaftswachstums erfreut, einen wesentlichen Zivilisationssprung gemacht hat. Auch heutzutage bringt Mitteleuropa als Idee eine Dynamik und einen positiven Inhalt mit sich. Sollte ich das gegenwärtige Antlitz Mitteleuropas, darunter Polens als des größten Landes der Region, verdichtet zusammenfassen, würde ich von einer Erfolgsgemeinschaft und zugleich von einer aufstrebenden Gemeinschaft sprechen.

Mitteleuropa stellt ein Paradebeispiel für die enorme schöpferische Kraft der Freiheit dar – Freiheit und deren Begleiter: freie Wirtschaft, freies Unternehmertum, freie Selbstverwaltung. Sie ebnen den Weg für kühne Ambitionen und mutige Bestrebungen. Mit Freiheit geht immer auch Entwicklung einher. Drei Jahrzehnte, die seit dem Sturz des Kommunismus, seit dem durch die polnische Solidarność-Bewegung angestoßenen Umbruch in unserer Region vergingen, erzählen die Geschichte eines großen wirtschaftlichen Erfolgs, eines gesellschaftlichen und zivilisatorischen Aufstiegs, wie er in einer so kurzen Zeit nur selten im Laufe der Weltgeschichte zu beobachten gewesen war. Polen und ganz Mitteleuropa legen ein faszinierendes Zeugnis von Möglichkeiten ab, welche die Freiheit eröffnet.

»Mitteleuropa kann auf andere Regionen inspirierend wirken, indem es ihnen positive Resultate von Kooperationen, gemeinsamen Initiativen und Unternehmungen vor Augen führt. «

Wir können außerdem auf andere Regionen inspirierend wirken, indem wir ihnen positive Resultate von Kooperationen, gemeinsamen Initiativen und Unternehmungen vor Augen führen. Ihnen ist zu verdanken, dass Mitteleuropa nicht mehr – wie in ungünstigen Zeiten – eine Peripherie zwischen Ost und West, zwischen imperialen Großmächten ist, sondern zu einer selbstbewussten, europaweit einflussreichen Struktur vielfältiger Verflechtungen werden konnte. Die Emanzipation Mittelosteuropas ist erfolgreich verlaufen – wir sind Subjekte politischer und zivilisatorischer Prozesse geworden.

Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit nun auf drei besondere Aspekte der mitteleuropäischen Zusammenarbeit von nicht nur regionaler, sondern auch europäischer, atlantischer und gar globaler Bedeutung lenken. Als älteste Initiative ist zuerst die Visegrád-Gruppe zu nennen. Gegründet 1991 bildet sie eine Plattform für den politischen Austausch zwischen Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn und erweist sich als brauchbares Forum auch nach dem Erreichen der strategischen Ziele von damals: dem Eintritt in die EU und in die Nato. Sie stellt heute einen der wichtigsten Faktoren bei der Aktivierung der regionalen Zusammenarbeit in Mitteleuropa sowie der gegenseitigen Verständigung in europäischen Fragen dar.

Als Nächstes denke ich an die Bukarester Neun, welcher die an der östlichen Grenze der Nato liegenden Staaten angehören: Polen, Rumänien, Litauen, Lettland, Estland, Ungarn, die Slowakei, Tschechien und Bulgarien. Bei der Gründung in Bukarest im Jahr 2015 unterzeichneten wir eine gemeinsame Erklärung, wonach wir unsere Kräfte bündeln wollen, um überall in unserer Region, wo das nötig sein sollte, eine „starke, glaubwürdige militärische Präsenz“ der Nato zu sichern. Die Bukarester Neun ist weitgehend eine Reaktion auf die aggressive Politik Russlands – die Verletzung der Grenzen und des Territoriums der benachbarten Ukraine, wodurch die regionale und die atlantische Sicherheit bedroht wird. Wir denken nicht daran, diesem Vorgehen tatenlos zuzusehen.

Drei-Meere-Initiative mit Österreich

Drittens arbeiten wir in der von der kroatischen Staatspräsidentin Kolinda Grabar-Kitarović 2015 ins Leben gerufenen Drei-Meere-Initiative zusammen. Mitglieder sind hier Staaten, die zwischen der Ostsee, der Adria und dem Schwarzen Meer liegen: Bulgarien, Estland, Kroatien, Lettland, Litauen, Österreich, Polen, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn. Zum Ziel setzt man sich gemeinsame Investitionen in den Bereichen Infrastruktur, Transport, Energiepolitik und neue Technologien, welche die Entwicklung in unseren Ländern ankurbeln und zu einer besseren Kohärenz innerhalb der EU beitragen sollen.

Bei einem Blick auf die Landkarte wirtschaftlicher Verbindungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten bemerkt man ein deutliches Übergewicht der Aktivitäten entlang der horizontalen Ost-West-Achse gegenüber den Kontakten, die entlang der vertikalen Nord-Süd-Achse verlaufen. Gemeint sind dabei Menschen, Waren, Dienstleistungen, das Kapital, aber auch die Infrastruktur: Autobahnen, Bahnstrecken, Hubs, Pipelines, Stromleitungen und Informationswege. Die Drei-Meere-Initiative will diesen Teil Europas strukturell ausbauen und das fehlende „Gerüst“ liefern, um die Integration unserer Region und damit der ganzen EU zu stärken. Zugleich gibt sie ein Beispiel für eine gesunde Diversifikation der Vorteile und Wechselbeziehungen ab, weil sich dabei außer der EU auch Investoren aus den USA, China und anderen Weltregionen finanziell beteiligen.

So sieht das Bild und die Zukunftsvision Mitteleuropas als einer aktiven, erfolgreichen, ehrgeizigen und aufstrebenden Gemeinschaft aus. Hinter uns liegt ein langer Weg. Von einem Landstrich, der im Bewusstsein der weltweit wichtigsten Akteure kaum vorhanden war (Alfred Jarry sagte gegen Ende des 19. Jahrhunderts: „Polen – das heißt nirgendwo“), entwickelten wir uns zu einer Region, die sich im globalen Vergleich mit am dynamischsten entwickelt und den Ehrgeiz hat, als einer der zivilisatorischen Mittelpunkte zu gelten. Mitteleuropa – der Name ist Programm? Auch Sie sind zu diesem faszinierenden Abenteuer herzlich eingeladen!

Der Text wird gleichzeitig in der meinungsbildenden Monatsschrift Wszystko Co Najważniejsze (Das Allerwichtigste) im Rahmen des in Kooperation mit der Warschauer Wertpapierbörde realisierten Projektes „Dekada Europy Centralnej” (Das Jahrzehnt Mitteleuropas) veröffentlicht.

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