Zum Anhalten angehalten. Vielerorts ist von einer Wiederentdeckung der Muße die Rede
Produktives Nichtstun

Wenn die Zwänge Pause machen: Wie viel Muße darf sein?

Süßes Nichtstun, verpönte Faulheit oder produktive Auszeit? Über den differenziert aufgeladenen Begriff der Muße.

Dossier

Er versinkt in Tagträumen, verlässt selten seine Schlafstätte und mit ihr den ihm so eigenen Zustand der Lethargie. Er lebt die Entschleunigung, entzieht sich jeglicher Produktivität, lehnt Einladungen ab, die Welt um ihn herum zu erkunden. Der russische Landadelige Oblomow, den der Schriftsteller Iwan Gontscharow im 19. Jahrhundert erschaffen hat, verkörpert in gewisser Weise die Kontroverse, die bis heute um den Begriff der Muße herrscht. Für die einen ist es ein Sehnsuchtsort, an den die Romanfigur flüchtet, der jenseits des Trubels und der Hektik des geschäftigen Alltagslebens liegt. Für die anderen ist Oblomow ein Faulenzer, ein Nichtsnutz, ein Schlendrian, der in diesem Sinne auch das "Oblomow-Syndrom" geprägt hat ein Krankheitsbild, das für Teilnahmslosigkeit steht, für Desinteresse und Lustlosigkeit, am Leben teilzunehmen.

Es ist ein kleines Detail aus ihrer Forschungsarbeit, erzählt Elisabeth Cheaur von der Universität Freiburg, das aber die gesellschaftliche Relevanz, die das Thema bis heute hat, verdeutliche. Im Rahmen eines interdisziplinären Sonderforschungsbereichs beschäftigt sie sich dort seit 2013 mit dem Phänomen und greift gesellschaftsrelevante Fragen auf, wie sie auch Oblomow zutage brachte: Wer darf heute Muße haben? Ist es ein Privileg, Zeit zum Innehalten zu haben, eine erstrebenswerte Praxis, an die sich Menschen heutzutage in Form von Meditation oder Kuraufenthalt annähern wollen? Oder ist es ein zu verachtender Zustand, für den in unserer Leistungsgesellschaft kein Platz ist? Und was zeichnet eine Mußeerfahrung eigentlich aus?

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Idealisierter Begriff

Zunächst lohnt sich noch einmal der Blick zurück. Denn das Potenzial für Diskussionen und Konflikte, das der Begriff birgt, reicht weit in die Geschichte der Menschheit zurück, wie Jochen Gimmel, Philosoph und ebenfalls Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich, an ein paar Beispielen festmacht. In der Antike stand er unter dem Begriff "otium" im Sinne eines schöpferischen Aktes, der den freien Bürgern vorbehalten war. Dabei beschäftigten sich Denker der Antike wie Aristoteles, Platon oder Diogenes wissenschaftlich mit der Wahrheit, hinterfragten das Selbst, suchten den Sinn des Seins, formulierten Theorien. Demgegenüber standen die unfreien Menschen, die Sklaven oder "Banausen". Sie waren ausgeschlossen von derartigen Mußeerfahrungen und gestalteten demnach die "Polis", die Gesellschaft und Gemeinschaft, nach Auffassung der Philosophen nicht aktiv mit und das, obwohl sie die mühevollen Arbeiten, das "negotium", betrieben. Aber Arbeit und Muße schließen einander aus, soll Aristoteles festgestellt haben. Sie hatten also nicht die Freiheit, in Muße zu sein.

Im Mittelalter sind zwei markante Haltungen feststellbar. Zum einen eine stark theologisch geprägte, die ebenfalls auf den Bereich der höheren geistigen Tätigkeit und der Reflexion referiert, aber verstärkt auf die Kontemplation eingeht, auf die Gotteseinsicht und Betrachtung des Göttlichen. Zum anderen wird die Tugend, als die die Muße in der Antike beinah gesehen wurde, zum Laster: Die "acedia" war im europäischen Mönchstum eine Sünde. Trägheit verhelfe nicht zum gottgefälligen Leben, so die Auffassung. Noch klarer wird sie in der überlieferten Aussage: "Schuften im Diesseits, genießen im Jenseits." Ein Verständnis, wie es auch im Protestantismus vorherrschte: "Der Mensch ist zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen", soll Martin Luther gesagt haben.
Mit der Industrialisierung und der damit einhergehenden Beschleunigung der Zeit verschärfte sich diese Gangart, um die Muße war es schlecht bestellt. "Bloß nicht untätig sein, immer arbeitsam bleiben und Leistung bringen", so das Credo.

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