Zeichen der Zeit

Und was, wenn keiner hinschaut?

Mode, so die Theorie, war immer schon ein Mittel, seine Persönlichkeit auszudrücken.

Man neigt sich zueinander, man flüstert, man tanzt. Man trägt Rüschen, Puffärmel, Mieder und Culs de Paris. Das Haar ist aufwendig geflochten, die Zofe hat lange daran gearbeitet. Ganz nahe stand sie, als sie Strähne für Strähne zum Glänzen brachte, wand, wickelte, fixierte. Der Saal ist voll, Stimmen mischen sich und damit der Atem vieler Menschen. Sie sprechen, lachen, singen, husten und schaffen eine Wolke der Gemeinschaft, die sich mit dem Duft des Rosenwassers und der Lilienbouquets mischt.

Es ist nicht nur die lange zurückliegende Vergangenheit, die uns aus Historien- und Kostümfilmen entgegenblickt, sondern auch die eigene, rezente. Auch wir haben uns schön gemacht, bevor wir unter Leute gingen, sei es ins Theater, ins Restaurant – oder auf einen Ball. In meiner Kindheit gab es noch Frauen, die mit Lockenwicklern auf dem Kopf oder gar im Morgenmantel schnell zum Bäcker gingen. Das ist schon lange vorbei. „Fare bella figura“, wie die Italiener sagen, ein gepflegtes Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit zeigen, wurde irgendwann zum guten Ton.

Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf unser öffentliches Auftreten? Lockdown bedeutet: keine Kosmetikerin, kein Nagel-, Wimpern- oder Waxingstudio, kein Barber Shop. Dienstleistungen, die ausgelagert waren, kehren in den Do-it-yourself-Bereich zurück. Farbmischungen und Auftragpinsel werden von findigen Coiffeuren auf der Straße an Stammkundinnen ausgehändigt.

Das Lächeln hinter der Maske

Das Erste, was bei den Frauen fiel, die im Homeoffice bleiben mussten, war der BH. Erstaunlich eigentlich, dass man ihn im Alltag für Außenstehende getragen hatte, die die Formen nur geformt sehen sollten. Ein neues Accessoire tauchte auf: die Maske. Wie bei allem, was der Mensch trägt, zeigte auch sie mehr, als sie verbarg. Die günstige blaue Einwegmaske definierte den Sparefroh, die Stoffmaske wurde nicht allein aus modischen Gründen getragen, sondern oft auch, weil man sie bei einer karitativen Organisation erworben oder von einer lieben Person als selbst genähtes Geschenk bekommen hatte, wodurch sie einen ethisch-emotionalen Mehrwert erhielt. Für meinen kleinen Neffen, wenige Wochen vor dem ersten Lockdown geboren, ist es ein selbstverständlicher Anblick, wenn jemand sein Gesicht mit dem Mund-Nasenschutz bedeckt. Lächelt man ihn mit Maske an, lächelt er zurück – wie viele Kinder hat er schnell gelernt, das Lächeln an der Augenmimik zu erkennen.

Mode, so die Theorie, sei ein Mittel, seine Persönlichkeit auszudrücken (abgesehen von den finanziellen Möglichkeiten und dem damit verbundenen sozialen Status). Was aber, wenn kaum noch jemand da ist, der diesen Ausdruck der eigenen Persönlichkeit sieht? Im Umgang damit gibt es zwei Extreme: das Sich-Gehen-Lassen. Und das Dagegen-Ankämpfen: Frauen, die für den Spaziergang mit der Freundin schick hergerichtet sind, Männer, die mit gebürstetem Jackett und gezupften Brauen mit der U-Bahn fahren.
Und doch geschieht etwas mit uns, je länger der Lockdown andauert, je größer die Abstände werden, die wir einzuhalten haben. Vielleicht sehen wir gar nicht mehr so genau hin, wenn wir anderen Menschen begegnen. Denn um einander nicht anzuatmen, drehen wir uns weg. Wir wenden das Gesicht ab und damit den Blick. Der Lockdown geht auf unsere Körper über: Im Nicht-einmal-mehr-Hinschauen zu den anderen bleiben wir ganz verschlossen in uns selbst.

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