Film von Popstar Sia

Tanzt so ein autistisches Mädchen?

Alamode Film
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In den Musikvideos von Sia begeisterte Maddie Ziegler mit ihrem expressiven Mienenspiel. Im ersten Film des Popstars, „Music“, verstört sie damit: Äfft sie etwa Behinderte nach?

Das Mädchen verzerrt den Mund zu einem Grinsen, eine Sekunde lang nur. Sie reißt die Augen auf, dreht die Pupillen in alle Richtungen, schürzt die Lippen und wiegt den Kopf hin und her, streckt die Zunge raus und lässt die Finger vor dem Gesicht flattern. Die mimische Akrobatik von Maddie Ziegler ist im Pop-Business längst zu einer Art Marke geworden. Seit die Sängerin Sia die Tänzerin im Alter von elf Jahren bei einer Reality-Show entdeckt und für das Video zum Hit „Chandelier“ verpflichtet hat, tanzte sich Ziegler durch zahlreiche Sia-Musikvideos.

Ihr Mienenspiel ist dabei stets mindestens so expressiv wie ihr körperlicher Ausdruck. Sie dreht Pirouetten und stakst wie ein Zombie, wirft sich auf den Boden und hüpft wie ein Gummiball. Und immerzu reißt sie Mund und Augen auf. Was lässt sie so auszucken? Ist sie von Dämonen besessen? Wahnsinnig? Das entfesselte Alter Ego der öffentlichkeitsscheuen, sich oft hinter Perücken versteckenden Sia?

Oder sind ihre Grimassentänze nur die Tagträume eines autistischen Mädchens, das in seiner Fantasie die Gedanken und Emotionen herauslässt, die es in der Realität aufgrund seiner Behinderung nicht ausdrücken kann? Diese Antwort gibt Sia in ihrem Spielfilm-Regiedebüt, das ab Freitag auf diversen Onlineplattformen (etwa iTunes und Amazon) erscheint. „Music“ erzählt die Geschichte einer drogenabhängigen Frau auf Bewährung (Kate Hudson), die sich nach dem Tod der Oma um ihre kleine Schwester Music kümmern muss. Diese (Maddie Ziegler) ist autistisch, kann kaum sprechen und braucht ihren geregelten Tagesablauf – vom Smiley-förmig angeordneten Frühstücksei bis zum täglichen Spaziergang.

Flucht in eine Regenbogenwelt

Aus der autistischen Community hagelte es scharfe Kritik an dem Film, schon vor seinem Erscheinen. Einige stießen sich daran, dass mit Ziegler eine „neurotypische“, also nicht autistische Darstellerin den Part des autistischen Mädchens spielt. Sia verteidigte ihre Entscheidung vehement auf Twitter: Sie habe es mit Schauspielerinnen „aus dem autistischen Spektrum“ versucht, sogar mit einem Mädchen, das nicht spricht – dieses habe die stressige Atmosphäre am Filmset aber nicht ausgehalten. Also habe Sia ihre Stammdarstellerin Ziegler ausgewählt.

Es gäbe genug gute Schauspielerinnen mit Behinderung, meinen Autisten-Organisationen. Freilich: So tanzen wie Ziegler kann sonst niemand. Und „Music“ ist der Tänzerin förmlich auf den Leib geschrieben. Immer wieder flüchtet sich die Titelheldin in imaginierte Musikvideos: Die Charaktere befinden sich dann plötzlich in einer bunten Regenbogenwelt, die von Farben, Texturen, Mustern und Lichtblitzen derart überfrachtet ist, dass auch Menschen ohne sensorische Überempfindlichkeit schwindlig werden kann. In diesem Wunderland ist Music in ihrem Element, hier kann sie sich mitten im Chaos wohlfühlen. Mühelos wirbelt sie herum, macht ihre üblichen Grimassen, gehüllt in aberwitzige Kostüme – riesige Stoffschleifen, gepolsterte Plastikanzüge –, während Menschen in Luftballonanzügen durch den Hintergrund wabern. „Take a trip into my magic mind“, heißt es in einer Textzeile. Sieht es so im Kopf einer Autistin aus?

Dieser Schluss erzürnte viele Betroffene, die dem Film Behindertenfeindlichkeit vorwerfen – nicht nur wegen mangelnder Repräsentation, auch weil sie sich verhöhnt fühlen. Zu Recht: Eine tiefgründige Charakterisierung findet hier nicht statt. In den Szenen zwischen den ausschweifenden Choreografien (die Handlung ist eine inkonsistente Aneinanderreihung von Problemdrama-Klischees) zappelt, zuckt und gluckst Ziegler geistesabwesend – mehr Persönlichkeit steht einer „behinderten“ Figur offenbar nicht zu. Dieses Mädchen lebt erst, wenn es tanzt: Das Bild der nachgeäfften Autistin verleiht auch den früheren Musikvideos von Sia und Maddie Ziegler einen unguten Beigeschmack.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.02.2021)

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