Genetik

Das Hirn des Neandertalers - aus dem Labor

IMBA/ Madeline A. Lancaster
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Ein Experiment mit Stammzellen zeigt: Eine einzige Genvariante bewirkt, dass unsere Gehirne viel leistungsfähiger sind als die unserer ausgestorbenen Vorfahren.

Es klingt ein wenig gruselig: In einem Labor haben US-Forscher das Hirn eines Neandertalers nachgebaut (Science, 11.2.). Damit lässt sich erstmals näher erklären, aufgrund welcher genetischer Abzweigung, welcher Beimischung wir zu Sprache, Kreativität und technischen Errungenschaften fähig sind – jenen Eigenschaften, die den Homo sapiens als einzige Art der Gattung Homo überleben ließen.

Dabei ähnelt unser Erbgut sehr dem unserer nächsten ausgestorbenen Verwandten, dem Neandertaler und dem Denisova-Menschen. Aber immerhin 61 Gene waren bei ihnen anders. Eines von ihnen hat die besondere Aufmerksamkeit des Molekularmediziners Alysson R. Muotri von der University of California in San Diego erregt: NOVA1 ist eines jener regulativen Gene, die mit einer Art Bauplan die Aktivität anderer Gene in frühen Phasen der Entwicklung steuern. In diesem Fall geht es um die Entwicklung und die Funktionsweise des Nervensystems und des Gehirns. Wir Menschen haben dieses Gen, unsere ausgestorbenen Vorgänger hatten es auch – aber in einer anderen Variante.

Mithilfe der „Genschere“-Methode ersetzten Muotri und sein Team die aktuelle mit der archaischen Variante in Stammzellen von heutigen Menschen. Dann brachten sie diese Stammzellen dazu, sich in Hirnzellen auszudifferenzieren und zu verdrahten.

Andere Form, anderer Aufbau

So erwuchs aus einer künstlichen Zellkultur eine Art verkleinertes Modell vom Gehirn eines Neandertalers. Dieses „Organoid“, dem im Vergleich zu einem richtigen Organ etwa die Blutgefäße fehlen, unterscheidet sich auch mit freiem Auge deutlich von dem seines menschlichen Pendants: Es hat eine andere Form.  Bei näherer Betrachtung zeigten sich für die Forscher noch viele weitere Unterschiede: die Art, wie sich die Zellen ausbreiten, wie sich die Synapsen als Verbindungsstellen der Neuronen bilden und auch, aus welchen Proteinen die Synapsen aufgebaut sind.

Als aufschlussreich erwies sich zudem eine Untersuchung der elektrischen Impulse: Sie deuten beim Neandertalerhirn-Organoid auf stärkere Aktivitäten in frühen Phasen als beim normalen Homo-Sapiens-Organoid. Was die Wissenschaftler an etwas erinnert: Primaten, wie etwa Schimpansen oder Bonobos, erwerben als Neugeborene schneller neue Fähigkeiten als menschliche Babys. Das Gehirn des Homo sapiens entwickelt sich langsamer, wird aber letztendlich zu einem ungleich komplexeren Gebilde.

Nach diesem Volltreffer will Muotri nun die anderen 60 abweichenden Gene unter das Mikroskop legen und prüfen. Seine neuartige Methode, die Stammzellenbiologie, Neurowissenschaft und Paläogenetik kombiniert, hat sich jedenfalls bei ihrem ersten Einsatz bewährt. Aber etwas unheimlich wirkt sie doch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.02.2021)

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