Filmfestspiele Venedig: Große Filme, ungewisse Zukunft

Filmfestspiele Venedig Grosse Filme
Filmfestspiele Venedig Grosse Filme(c) EPA (CLAUDIO ONORATI)
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Am Lido gab es einen der stärksten Kinomostra-Jahrgänge. Trotzdem ist das Festival in Schwierigkeiten. Ein Teil des Geländes vor dem Palazzo ist wegen des Neubaus unzugänglich. Die Preisfavoriten sind zahlreich

Festivaldirektor Marco Müller lässt es sich nicht nehmen, selbst die Zebramaske aufzusetzen: Zur Mitternachtsvorstellung der durchgeknallten japanischen Fantasykomödie Zebraman2: Attack on Zebra City in der Sala Grande ist Regisseur Miike Takashi unter dem Jubel der Fans mit einer Kopfbedeckung im Stil seines tierischen Titelhelden erschienen. Der Venedig-Direktor borgt sie aus und posiert für Publikum und Fotografen als Zebra-Müller. Doch die demonstrative gute Laune mag täuschen. In Interviews hat der Leiter der Kinomostra über die vorzeitige Beendigung seines Vertrags spekuliert, der bis 2012 geht – dem Jahr, in dem der neue Kinopalast am Lido fertig werden und endlich die einzige Schwachstelle des Festivals ausräumen sollte: das Fehlen eines Kinomarkts, weswegen der Großteil der Industrie zum fast zeitgleichen Riesenfilmfest in Toronto weiterfährt. Oder gleich überhaupt nur dorthin.

Der Filmpalazzo als Baustelle

Doch das Lido-Leben ist eine Baustelle: Ein Gutteil des Geländes vor dem historischen Filmpalazzo ist wegen des Neubaus unzugänglich. Die Teppichparaden von Hollywoodstars wie Natalie Portman oder Ben Affleck finden also vor dem Hintergrund einer holzbrettumzäunten Schuttgrube statt. Dabei sind die Arbeiten jetzt bis auf Weiteres eingestellt, seitdem Asbestplatten ausgegraben wurden. Fortsetzung ungewiss.

Es ist nicht der einzige Ärger, den der gebürtige Römer Müller daheim hat: Die italienische Presse schießt sich jedes Jahr wieder auf ihn ein, obwohl er der intelligenteste und gewiefteste Leiter eines Großfilmfestivals ist. Wo Dieter Kosslick mit seinem von hemdsärmeliger Sozialdemokratie inspirierten Konsensprinzip die Berlinale längst zur künstlerischen Lachnummer gemacht hat und Cannes unter Thierry Frémaux sichtlich unter industriellen Kompromissen und artistischen Fehlgriffen leidet, gelingt es Müller als Einzigem einigermaßen, den ästhetischen Anspruch mit den politischen Notwendigkeiten auszusöhnen. Es ist kein Zufall, dass am Lido der wilde Japaner Miike mit seinem bunten Pop-Spektakel dieselbe Begeisterung auslöst wie der 101-jährige portugiesische Autorenfilmer Manoel De Oliveira, der einen kostbaren Kunstbetrachtungskurzfilm in einer Nebensektion präsentiert – für beide gibt es nicht enden wollende Standing Ovations.

Am häufigsten applaudiert man heuer aber dem Präsidenten der Wettbewerbsjury: Kultregisseur Quentin Tarantino, mal im Cowboyhut, mal im Holzfällerhemd von Vorstellung zu Vorstellung eilend, im Gehen Autogramme schreibend und mit seinem markanten Lacher in den Vorführungen vielleicht schon etwas über die am Samstagabend anstehenden Preise verratend. Zwar klagt Italiens Presse über das Fehlen guter Filme, aber vielleicht sind doch eher Dinge gemeint wie das Fehlen von Festivalliebling George Clooney, dessen zeitgerecht für Venedig fertiggestellter Krimi The American dem Selektionskomitee nicht gut genug war. Die internationale Presse reagiert heuer dagegen ungewohnt positiv: Im Kritikerspiegel führt das famose Fantasy-Abenteuer Detective Dee and the Mystery of the Phantom Flame, in dem Hongkong-Regisseur Tsui Hark mit einfallsreicher Bildsprache und surrealen Effekten durch einen Historienkrimi navigiert, als wäre die asiatische Kinowelle der 1980er nie abgeklungen. Ein ungewöhnlicher Wettbewerbsfavorit, aber bei Genrefreund Tarantino nicht ganz undenkbar – wie auch im Fall des mit Szenenapplaus bedachten Schwertkampffilms 13 Assassins, den ebenfalls Miike inszeniert hat, als klassizistischen Konkurrenz-Kontrapunkt zum Zebrawahn seines Mitternachtsfilms.

Müllers ausbalancierte Selektion steuert mit ihrer cinephilen Rigorosität auch dem üblichen Zeitgeistgetue um aktuelle Trends entgegen: Die wesentlichen Filme hier widersetzen sich der Einteilung in hastige Tagesjournalismus-Diskurse. Zwar gab es auch belanglose Beziehungsstückchen wie Tom Tykwers Dreiecksgeschichte Drei mit Sophie Rois, politisch korrektes Händeringen wie im Rassismus-Historienstück Venus Nóire von Abdellatif Kechiche und Quotenfrauenbeiträge wie den bescheidenen US-Pseudowestern Meek's Cutoff von Kelly Reichardt. Aber zu all dem wird immer auch die außergewöhnliche Antithese geliefert: Die Griechin Athina Rachel Tsangari etwa stellt sich in ihrer verblüffenden Komödie Attenberg quer zur üblichen Praxis und spielt Beziehungskonstellationen musikalisch, als Abfolge von absurden Wortspieldialogen, charmanten Choreografien und merkwürdigen Missverständnissen durch.

Der spanische Regierüpel Alex de la Iglesia überrascht in Balada triste de trompetamit einer flammenden Kombination aus Horror, Herz und Historienbewusstsein: Das eskalierende Duell zweier Clowns wird zum Grand-Guignol-Spiegelbild der Franco-Ära. „Gebt dem Clown eine Machete, das wird die Gegner erschrecken!“, heißt es beim blutigen Beginn im Bürgerkrieg, und in die verstümmelten Grimassen und Körper, in die grotesken Geschichten der psychopathischen Spaßmacher schreibt sich tatsächlich das Trauma einer Nation ein.

Furioses Comeback Monte Hellmans

Trotz der starken Selektion bleibt die Zukunft von Venedig und Direktor Müller ungewiss. Trost finden kann der Festivalleiter vielleicht im Meta-Meisterwerk seines Wettbewerbs: Road to Nowhere ist das Comeback von US-Regielegende Monte Hellman nach 20 Jahren, ein mit seinen Studenten erarbeiteter Quasi-Thriller über Dreharbeiten zu einem Film nach einer wahren Geschichte. Statt um Suspense geht es um die Spannung zwischen Leben und Kunst, Träumen und Wirklichkeit. Schreckliche Einsamkeit durchzieht diesen Film, der in seiner abgeklärten Demut im Gegenwartskino sehr einsam dasteht. Er sagt alles über die Illusionen und macht sich doch keine: Er berichtet vom Kino als Maschine von Trost und Verblendung, von Ekstase und Verderben, als Kunst, die einem alles gibt – und nichts. Der bloße Gedanke an die Preisvergabe erscheint danach bedeutungslos.

CHANCEN FÜR ÖSTERREICH?

Im Venedig-Wettbewerb ist nur eine Österreicherin vertreten: Sophie Rois könnte für Tom Tykwers Film „Drei“ einen Darstellerpreis bekommen. Stark vertreten war Österreich in der neuen, bemerkenswerten Sektion für kurze und mittellange Filme im Zweitbewerb „Orrizonti“. Dort liefen vier Austro-Filme: Peter Tscherkasskys „Coming Attractions“, Sasha Pirkers „The Future Will Not Be Capitalist“, Martin Arnolds „Shadow Cuts“ und „Mouse Palace“ von Harald Hund und Paul Horn. In der „Orrizonti“-Jury: Alexander Horwath (Filmmuseum Wien).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.09.2010)

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