Freie Ausübung der Religion? Nein danke.

Freie Ausuebung Religion Nein
Freie Ausuebung Religion Nein(c) EPA (Nic Bothma)
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Die Zähmung und Domestizierung von religiösem Glauben ist eine nie endende Aufgabe der Zivilisation. Zur Debatte um Freiheit und Zusammenleben von Gläubigen und Ungläubigen.

Ein aktueller Wirbelsturm liberaler Kolumnen hat die Debatte über den Islam in Amerika (ausgelöst durch das Vorhaben, eine Moschee auf dem Platz der am 11.September 2001 zerstörten Twin Towers in New York zu errichten, Anm.) so dargestellt, als ob es sich bloß um die neueste Entwicklungsstufe in der ruhmreichen Geschichte unserer religiösen Toleranz handelte. Die Sache so zu drehen, hat den (möglicherweise beabsichtigten) Effekt, Zweifel zu marginalisieren und mögliche Zweifler mit antikatholischen Ahnungslosen, Antisemiten und anderen Bigotten und Hinterwäldlern in einen Topf zu werfen. Daher halte ich inne, um ein Gedankenexperiment vorzunehmen und mich zu fragen: Bin ich für eine ungehinderte „freie Religionsausübung“?

Nein, bin ich nicht. Nehmen wir ein naheliegendes Beispiel: die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Besser bekannt als die Kirche der Mormonen kann sie sich Glenn Beck als einen ihrer Rekruten rühmen. Er hat kürzlich viel billige Aufmerksamkeit gewonnen, als er eine Kundgebung zu Martin Luther Kings Jahrestag in Washington veranstaltet hat. Aber an dem Tag, an dem die ursprüngliche Kundgebung im Jahr 1963 stattgefunden hatte, hatten sich die Mormonen noch gar nicht dazu durchgerungen, Schwarze als vollgültige Menschen oder Anwärter für das Priesteramt anzuerkennen. (Ihre Führerschaft hat im Folgenden eine „Offenbarung“ erlebt, die in diesem Punkt eine Änderung erlaubte, allerdings erst nach dem Erlass der Bürgerrechtsakte.) Dieser Opportunismus erinnert deutlich an eine frühere Anpassung eines Mormonen-Dogmas, als die historische und vehemente Bindung an die Polygamie aufgegeben wurde. Ohne diese Änderung der Doktrin, so wurde dem Staat Utah klargemacht, könne er nicht Teil der Union werden. In neuerer Zeit, in der Vorwahl zum Präsidentenamt, musste Mitt Romney, der frühere Gouverneur von Massachusetts, den Wählern versichern, dass er den Propheten oder das Haupt der Mormonen-Kirche nicht als Träger ultimativer moralischer oder spiritueller Autorität in allen Fragen ansehe. Nichts, so schwor er, könne die amerikanische Verfassung außer Kraft setzen. Wenn wir also die Heiligen der Letzten Tage als annehmbar ansehen und uns darauf verständigen, ihre anderen wunderlichen und sonderbaren Glaubenssätze zu übergehen, dann in dem Maße, als wir sie entschieden in der freien Ausübung ihrer Religion eingeschränkt haben.


Kleine, tödliche Herpes-Epidemie. Man könnte andere Beispiele aufzählen, wie etwa gewisse christliche Konfessionen, die medizinische Praktiken ablehnen. Ihren erwachsenen Mitgliedern wird es im Allgemeinen erlaubt, zu sterben, während sie die Ärzte davonscheuchen, aber in vielen Staaten würden sie, wenn sie diesen Glauben auf ihre Kinder anwenden – ein wesentliches Element in der „freien Ausübung“ der Religion –, vor Gericht kommen. Nicht nur das, sie können auch zum Ziel allgemeiner Ablehnung und Verdammung werden.

Vielleicht war es diese Überlegung, die geholfen hat, die Mehrheit der amerikanischen orthodoxen Juden dazu anzustacheln, die Praktik der Metzitza b'peh aufzugeben – eine radikale Form der männlichen Beschneidung, die dadurch gekrönt wird, dass der Rabbi oder Mohel am Penis des Säuglings saugt, um ihn von restlichem Blut oder irgendwelchen Überbleibseln zu säubern. Ein paar winzige Sekten halten immer noch an diesem ekelhaften Ritual fest, das vor ein paar Jahren in New York zu einer kleinen, aber tödlichen Herpes-Epidemie unter kürzlich beschnittenen Babys geführt hat. In diesem Zusammenhang hat der weithin überschätzte Bürgermeister Michael Bloomberg ein Wahljahr ausgesucht, um zu sagen, dass man solcher „freien Ausübung“ nicht in die Quere kommen sollte – obwohl viele jüdischen Ärzte ein Verbot dieser Praktik gefordert hatten.
Eines der schwersten Verbrechen. Auch reden wir jetzt so, als wäre es lächerlich, Katholiken etwas anderes als die edelsten Motive zu unterstellen, aber in der Zeit, als John F. Kennedy das unausgesprochene Tabu der Wahl eines Katholiken zum Präsidenten brach, hatte der Vatikan gerade erst begonnen, darüber nachzudenken, öffentlich Abbitte für Jahrhunderte des Judenhasses und eine etwas jüngere Sympathie für den Faschismus zu leisten. Und auch heute sind viele katholische Laien erschüttert über den Schutz des Vatikans für Männer, die für eines der schwersten Verbrechen gesucht werden – die organisierte Vergewaltigung von Kindern. Es gibt allgemeine Übereinstimmung, dass das Verhalten und die Autonomie der Kirche modifiziert werden müssen, um sowohl amerikanischem Recht wie auch amerikanischer moralischer Entrüstung zu entsprechen. So viel zur naiven Beschwörung der „freien Religionsausübung“.

Es fällt nicht schwer, fortzusetzen. Die Church of Scientology, die Vereinigungskirche des Sun Myung Moon und der Ku-Klux-Klan sind alles „faith-based organisations“ und haben alle das Recht auf den Schutz des Verfassungsartikels zur Religionsfreiheit. Aber sie sind auch alle Gegenstand eines Komplexes von Statuten, die Steuerfreiheit, Betrug, Rassismus und Gewalttätigkeit regeln – und das im Fall des KKK bis zu einem Punkt, wo die „freie Ausübung“ durch Durchsetzung von Bundesrecht und unnachgiebige öffentliche Ablehnung zu einem Schatten ihrer früheren Selbst reduziert worden ist.


Jüdische Selbstmordattentäter? Und nun zum Islam. Zunächst einmal ist er eine Religion, die sehr große Dinge von sich hält, die behauptet, das endgültige Wort Gottes zu sein, und die den Ehrgeiz vermittelt, die einzige Religion der Welt zu werden. Einige ihrer Anhänger praktizieren oder befürworten die Praktiken der Vielehe, der erzwungenen Hochzeiten, der weiblichen Beschneidung, der zwangsweisen Verschleierung der Frauen und der Zensur von nicht moslemischen Magazinen und Medien. Die Lehren des Islam zeigen allgemein Argwohn gegenüber der Idee der Trennung von Staat und Kirche. Andere Lehren können, abhängig vom Kontext, so verstanden werden, dass sie eine starke Abneigung gegen andere Religionen wie auch gegen häretische Formen des Islam selbst zeigen. Moslems in Amerika, selbst Mitglieder der Streitkräfte, wurden schon dabei ertappt, bereitwillig Befehlen von ausländischen Terrororganisationen Folge zu leisten. Am beunruhigendsten: Keine Autorität dieses Glaubens scheint die Macht zu haben, solche Praktiken oder Lehren oder Handlungen verbindlich als voll und ganz unvereinbar mit den Grundsätzen der Religion selbst zu verurteilen.

Auch wie „gemäßigte“ Moslems auf Kritik reagieren, ist nicht ausnahmslos beruhigend. Imam Abdullah Antepli, der muslimische Kaplan der Duke University, sagte zu den „New York Times“: „Manches, was die Menschen in dieser Moscheen-Kontroverse von sich geben (gemeint ist der Streit, ob auf dem Ground Zero eine Moschee errichtet werden soll, Anm.), ähnelt sehr dem, was deutsche Medien in den 20er- und 30er-Jahren über die Juden geschrieben haben.“ Ja, wir erinnern uns alle an die jüdischen Selbstmordattentäter dieser Zeit, genauso wie wir uns an die jüdischen Schreie nach einem Heiligen Krieg erinnern, an die jüdischen Forderungen, die Frauen zu verschleiern und die Homosexuellen zu steinigen, wie auch an die Juden, die Zeitungen mit Karikaturen verbrannt haben, die sie nicht mochten. Was von den Anhängern dieses sehr selbstbewussten Glaubens gefordert ist, ist mehr Selbstkritik und weniger Selbstmitleid und Selbstgerechtigkeit.


Moscheen in Amerika. Diejenigen, die sich wünschen, dass es in Amerika keine Moscheen gebe, werden die Debatte nicht gewinnen können: Die Globalisierung, genauso wie das Versprechen der amerikanischen Freiheit, ziehen zwangsläufig nach sich, dass die USA eine muslimische Bevölkerung von gewissem Ausmaß haben wird. Die einzige Frage ist also, welcher Art oder eher Arten des Islam sie folgen wird. Die Chancen stehen gut für ein gesundes pluralistisches Endergebnis, aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass dies passiert, wenn die Moslems – wie ihre Vorgänger an diesen Küsten – nicht gezwungen werden, gewisse Anmaßungen aufzugeben, die nur ihnen eigen sind. Die Zähmung und Domestizierung von Religion ist eine der nie endenden Aufgaben der Zivilisation. Wer vorgibt, dass wir dieses Stadium im aktuellen Fall überspringen können, macht sich etwas vor und fordert Schwierigkeiten nicht nur irgendwann in der Zukunft, sondern in der unmittelbaren Gegenwart heraus.

Christopher
Hitchens
gehört neben Richard Dawkins und Sam Harrris zu den bekanntesten und vehementesten atheistischen bzw. antitheistischen Publizisten der englischsprachigen Welt.

Aufmerksamkeit hat er etwa mit seiner scharfen Kritik an Mutter Teresa erregt. Sein jüngstes Buch (2007) trägt den Titel: „Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet.“

Ursprünglich Trotzkist, hat sich Hitchens vor allem durch seine Ablehnung des Islam und die Befürwortung des Irak-Krieges den Neokonservativen angenähert und ist heute Fellow der konservativen Hoover Institution in Stanford.

Hitchens ist gebürtiger Brite und lebt in den USA. Zeitgleich mit dem Erscheinen seiner Memoiren („Hitch 22“) im heurigen Juni wurde bei ihm Speiseröhrenkrebs im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert.

Der hier abgedruckte Artikel ist vor wenigen Tagen im Internetmagazin „Slate“ erschienen:
www.slate.com
AP

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.09.2010)

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