LITERATUR

Bis wir nach Malibu können

Briefe an Amalia: Genießen Sie es, sagen sie, wenn Du die Auslage küsst – es geht so schnell.

Heute bist Du anderthalb Jahre alt. Im ersten Brief erzählte ich Dir von Deiner Geburt und von dem Plazentabaum, den wir Dir in Sankt Martin in der Wart gepflanzt haben. Du warst siebzig Tage alt. Die Füchse haben den Kirschbaum nicht verwüstet, wie Deine Oberwarter Großmutter befürchtet hatte, letzten Sommer trug er Blüten. Im vorerst letzten Brief erzähle ich Dir, wie groß Du geworden bist.

Seit 551 Tagen bist Du bei uns. Du bist so groß geworden, dass Du auf keinen Fall ein Baby sein willst. Wir müssen alle kleineren Kinder vor Dir beschützen oder ständig in Deiner Nähe sein, wenn ein kleineres oder gleich altes Kind in Deiner Nähe ist. Manchmal schlägst Du auf ihren Kopf, meistens ziehst Du an ihren Fingern und schreist dabei kurz und grell. Anschließend bist Du für gewöhnlich lieb zu ihnen. Diese Taten übst Du zu Hause an Deinen Babypuppen. Auch in Wimmelbüchern schlägst Du auf alle Babys und Kleinkinder, die Du entdeckst – selbst Dein eigenes Abbild als kleinere Version von Dir ist nicht vor Angriffen gefeit. Während wir Dir beizubringen versuchen, Deinen kleineren Gefährtinnen und Gefährten mit „Ayay“ zu begegnen und sie zu streicheln, antwortest Du bereitwillig mit „Ayay“ auf die Aufzählung ihrer Namen, ehe es Dir reicht, Du uns anlächelst und einen kurzen grellen Schrei ausstößt. Manchmal zeigst Du uns, wie Du die Puppe streichelst, ehe Deine Hand wie eine Löwenpratze auf sie niederfährt. Vielleicht assoziierst Du Babys mit Weinen, also müssen sie weinen. Vielleicht willst Du nicht an das hilflose Wesen erinnert werden, das Du einmal warst. Unlängst zeigte ein Mädchen im Park auf Dich und sagte: Baby. Du zeigtest auf das Mädchen und sagtest: Baby.

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