In ihrem Ringen um eine gemeinsame außenpolitische Linie steckt die EU in Denkmustern der 1990er-Jahre fest. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.
Im Idealfall funktioniert die EU nach dem Prinzip des größeren Ganzen. Die nationalen Beiträge der 27 Mitgliedstaaten werden in Brüssel so zusammengefügt, dass das Ergebnis größer ist als die bloße Summe der Einzelteile. Besonders erfolgreich ist die Union mit diesem Ansatz seit jeher in wirtschaftlichen Belangen, die ja sozusagen die DNA der EU sind. Es gibt aber auch Gegenbeispiele – und eines davon ist die europäische Außenpolitik, die momentan nach dem umgekehrten Prinzip zu funktionieren scheint: Die EU als Ganzes gebietet weniger Respekt als ihre einzelnen Mitglieder. Die Art und Weise, wie EU-Chefdiplomat Josep Borrell kürzlich in Moskau von Außenminister Sergej Lawrow vorgeführt wurde, ist das letzte, aber beileibe nicht einzige Beispiel für den fatalen Hang zur Selbstverzwergung und dessen Folgen.
Warum ist das so? In ihrem Ringen um eine gemeinsame außenpolitische Linie steckt die EU im Mindset der 1990er-Jahre fest, als die Ära der Konflikte zwischen Groß- und Mittelmächten überwunden schien und Außenpolitik auf ihren humanitären Aspekt und das Akronym R2P reduziert wurde: Responsibility to Protect, also die Schutzverantwortung des Westens gegenüber den Opfern von Menschenrechtsverletzungen und ethnischen Säuberungen.