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"Kajillionaire": Diese Familie ist ein einziger Schwindel

Kajillionaire
KajillionaireUniversal Pictures
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Miranda Julys „Kajillionaire“ erzählt von einer Trickbetrüger-Sippe, die es sich im selbstgewählten Prekariat eingerichtet hat. Für familiäre Zuneigung bleibt da leider kein Platz. Eine wunderbare, so zarte wie groteske Tragikomödie.

Wie tröstlich muss es doch sein, im Kreis der Familie zu sterben. Der alte Mann liegt im Bett und versucht, sanft zu entschlafen. Drüben im Wohnzimmer herrscht reges Treiben. Man hört Besteck klappern, ein Mädchen spielt Klavier, die Mutter fragt, wie es in der Schule war, der Vater schaut fern und witzelt, ob er wohl heute endlich den Rasen mähen wird. Die Sonne strahlt durchs Fenster. Geplänkel, Gelächter. Familienleben in seiner wunderbaren, faden Durchschnittlichkeit – wenn es nur echt wäre. Und die „Familie“ nicht eigentlich eine Bande von Kleinbetrügern, die das Schauspiel nutzt, um dem alten Mann sein Scheckbuch abzuluchsen.

Dieser ahnt wohl, dass die Gestalten, die ihm da ins Haus geplatzt sind, nicht wirklich seine Kinder sind. Aber auf seine letzten Minuten ist es ja auch schon egal. Und dann steht in seinem Schlafzimmer eine junge Frau namens Old Dolio und hilft ihm beim Loslassen: Das Leben sei keine große Sache, er soll gar nicht drüber nachdenken, sagt sie ihm. Sie meint das ernst – das weiß der Seher an dieser Stelle von „Kajillionaire“, einer Tragikomödie der amerikanischen Universalkünstlerin Miranda July, die schon bei der Viennale zu sehen war, im November einen Kinostarttermin gehabt hätte und nun, nach dem Lockdown, ohne viel Aufsehens im Kauf- und Leihangebot diverser Streamingdienste geparkt wurde. Ein trauriges Schicksal für einen Film, der so wunderbar melancholisch und schrullig und originell, der zärtliches Familienporträt und hintersinnige Kapitalismusparabel zugleich ist.

Die beschriebene Szene erzählt viel über das Selbstverständnis der Kleingauner-Familie Dyne. Natürlich könnten Vater Robert (Richard Jenkins), Mutter Theresa (Debra Winger) und Tochter Old Dolio (Evan Rachel Wood) den wehrlosen Alten einfach ausrauben – aber es ist nun mal ihr Stil, dass sie für jeden ihrer armseligen Coups einen gewissen Aufwand betreiben. So geht dem Postraub, bei dem Old Dolio mit wendigem Arm vom eigenen Postfach aus die nebenstehenden ausräumt, eine ausgeklügelte turnerische Choreographie voraus. Vielleicht lässt sich der erbeutete Kleinkram ja zu Geld machen?

Täglich quillt der rosa Schaum aus der Wand

Für die spotthaft niedrige Miete reicht’s trotzdem nicht. Die Dynes wohnen im desolaten Bürotrakt einer Seifen(blasen)fabrik namens „Bubbles Inc.“, wo sie täglich den rosa Schaum abschöpfen müssen, der immer zur gleichen Uhrzeit durch die Deckenritze quillt. Nicht nur hier weckt „Kajillionaire“ Erinnerungen an den koreanischen Oscar-Sieger „Parasite“, wo die Wohnsituation der findigen Schmarotzer-Familie ähnlich prekär ist und die Darstellung der Klassenunterschiede ähnlich grotesk.

Doch die Dynes fühlen sich überlegen in ihrer Armut. Sie repräsentieren eine interessante Version von selbstgewähltem Außenseitertum im strahlenden Los Angeles: Sie sind ein bisschen hippieske Aussteiger, ein bisschen Verschwörungstheoretiker (die sich vor dem großen Erdbeben, „the big one“, genauso fürchten wie davor, „erfasst“ zu werden), jedenfalls Systemverweigerer. Meinen sie zumindest: Nach außen hin trotzen sie dem Diktat von Geld, Lohnarbeit und Konsum. Eigentlich spielen sie dann aber doch mit, wenn sie sich nach einer kleinen Gaunerei als allererstes einen Whirlpool kaufen oder wenn Richard begeistert über die gestohlene Krawatte fachsimpelt: Die sieht gar nicht billig aus!

Auch Liebe hat hier ihren Preis, und der ist hoch: Die Dynes sind keine Familie, sie spielen höchstens eine, wenn ein Scheckbuch als Beute winkt. Für Zuneigung bleibt in dieser Zweckgemeinschaft, die jede Beute strikt durch drei teilt, nämlich kein Platz. Geburtstagsgeschenke, Umarmungen, Pancakes zum Frühstück? Alles nur Auswüchse einer verweichlichten Gesellschaft!

Wann kommt „the big one"?

Darunter leidet die 26-jährige Old Dolio (ja, selbst ihre Namensgebung war Teil einer missglückten Betrugsmasche, wie recht spät im Film aufgeklärt wird). Darstellerin Wood ist grandios in der Rolle der emotional verwahrlosten Kindsfrau und deutet effektiv das Brodeln hinter der reservierten Miene an. Als die Bande mit der selbstbewussten Melanie (auch toll: Gina Rodriguez, bekannt aus „Jane the Virgin“) eine neue Komplizin bekommt, die in ihren knappen Tops auch äußerlich der komplette Gegenentwurf zu Old Dolio in ihrem formlosen Trainingsanzug ist, setzt das eine emotionale Erweckung in Gange – und eine Handlung, die stets mit unerwarteten Pointen zu überraschen vermag.

Miranda July, die schon mit ihren früheren Filmen („Ich und Du und Alle, die wir kennen“, „The Future“) ihr Händchen für schön verschrobene Tragikomödien bewiesen hat, gelingt hier ein raffiniertes Kunststück. Zur verträumt-nostalgischen Filmmusik von Emile Mosseri – darunter eine hauchzarte Version von „Mr. Lonely“ – baut sie eine surreale Welt, durch die doch glasklarer Realismus durchscheint: familiäre Abhängigkeiten, der Teufelskreis von Armut und Verbitterung, Hunger nach Geborgenheit. Seelische Erschütterungen bekommen hier seismologische Entsprechungen (wann wird es „the big one“ sein?), kleine unscheinbare Momente verbinden sich zu fantastischer Komplexität. Mögen die Figuren und ihr Verhalten noch so grotesk sein – die Darstellung ihrer Beziehungen und Gefühle bleibt überaus zart und intim. Ein beglückender Film!

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