Der Westen prangert die systematische Verfolgung der muslimischen Uiguren in China an. Peking sieht eine Schmutzkampagne. Dazwischen stehen die Uiguren und fragen sich, ob es sie am Ende dieses Jahrhunderts noch gibt.
An einem kalten Samstagvormittag packt Mechbube Abla zwei Fotos in ihre Tasche, im A4-Format ausgedruckt und von Klarsichthüllen geschützt. Sie steigt in einen Zug, fährt eineinhalb Stunden von Linz nach Wien, geht vom Bahnhof zu einem Vereinslokal im 15. Wiener Gemeindebezirk. Dort sitzt sie nun in einem ungeheizten Raum, richtet sich ihr weißes Kopftuch und rückt ihre Brille zurecht, die im selben Rot gehalten ist wie die sorgsam lackierten Fingernägel.
Die 39-jährige Altenpflegerin hat sich an ihrem freien Tag auf den Weg gemacht, um eine Geschichte zu erzählen. Sie handelt von den Menschen auf den zwei Fotos: ihrem Bruder, der Mutter und dem Vater. Einer nach dem anderen sind sie aus ihrem Leben verschwunden.
Sie werden in einem Lager umerzogen, sollen dort zu guten chinesischen Staatsbürgern gemacht werden. Wenn Mechbube Abla nicht schlafen kann, fragt sie sich, ob jemand ihre Lieben mit Medikamenten sediert, sie quält, sie foltert, sie umprogrammieren will, wie das jene wenigen Zeugen erzählen, die es aus den Lagern in China in den Westen geschafft haben. „Manchmal denke ich, es wäre besser für sie, wenn sie sterben“, sagt Abla über die Familie, von der ihr nur Bilder geblieben sind.
Mechbube Abla ist eine von mehr als zehn Millionen Uiguren auf der Welt. Sie wurde in einer Region geboren, die sie Ostturkestan nennt, weil sie im Osten eines Siedlungsgebiets von traditionell muslimischen Turkvölkern liegt, das sich über mehrere zentralasiatische Staaten wie Kasachstan, Kirgisistan, Turkmenistan oder Usbekistan ausbreitet.