Desinfektionsmittel

Das große Geschäft mit falschen Desinfektionsmitteln

Ist es ein Desinfektionsmittel oder nicht und hält es, was es verspricht? Für den Konsumenten ist das de facto nicht zu erkennen.
Ist es ein Desinfektionsmittel oder nicht und hält es, was es verspricht? Für den Konsumenten ist das de facto nicht zu erkennen.Getty Images
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In Drogerien, im Supermarkt, in der Apotheke: Viele Desinfektionsmittel dürften nicht mehr verkauft werden. Andere suggerieren eine Wirkung, die sie nicht haben. Warum sie noch zu finden sind und sogar zu Hautschäden führen können.

Wenn Miranda Suchomel vom Institut für Hygiene und Angewandte Immunologie der Medizinischen Universität Wien derzeit in einen Supermarkt oder in eine Drogerie geht, dann kommt ihr salopp formuliert „das absolute Grauen“. Suchomel sieht dort, was alle anderen Kunden auch sehen. Meistens neben der Kassa oder dicht beim Eingang steht ein Ständer mit Tuben und Fläschchen, die den Kunden von Viren und Bakterien befreite Hände versprechen. Nur kann das die Hygienikerin besser einordnen. Sie weiß: Das tun die meisten Produkte nicht.

Es ist ein Jahr her, dass Desinfektionsmittel ob der Pandemie in Österreich plötzlich ein knappes Gut waren. So knapp, dass sie fast nirgendwo zu bekommen waren und im Internet horrende Preise dafür gezahlt wurden. Also beschloss die Regierung mittels Notfallszulassung Desinfektionsmittel leichter herstellbar zu machen. So wurden Unternehmen, die Wirtschaftskammermitglieder sind und irgendwie eine Herstellung argumentieren konnten, plötzlich zu Desinfektionsmittel-Produzenten. Basis für die Herstellung waren die so genannten WHO-Formulierungen, die ins Leben gerufen wurden, um Krisenregionen wie Afrika mit Desinfektionsmitteln zu versorgen. Laut Bescheid des Umweltministerium vom 19. März 2020 mussten diese neuen Desinfektionsmittel für Österreich auf Basis von 1- oder 2-Propanol oder Ethanol hergestellt werden. Hierzulande wird vor allem Ethanol verwendet.


Einfach auf den Markt. Kontrolliert wurden diese Produkte in Österreich vor der Zulassung nicht. Oder wie es Christoph Zutz vom Umweltbundesamt, formuliert: „Es hat in der kurzen Zeit niemand exakt geprüft.“ Zutz ist Experte für Biozide und für die Bewertung der Wirksamkeit von Desinfektionsmitteln beim Umweltbundesamt zuständig. Er ist auch Leiter des Österreichischen Desinfektionsmittelnetzwerks. Das Umweltbundesamt ist die übergeordnete Behörde für Biozide in Österreich und hat bei der Erstellung der Notfallszulassung mitgearbeitet.

Einige Wochen nach Beginn der Pandemie machte Mahitab Khalifa-Paruch, Hautärztin und Oberärztin in der Klinik Ottakring, dafür eine Beobachtung. Immer mehr Patienten kamen mit rissigen Händen und Handekzemen zu ihr. Es waren Menschen aller Altersgruppen, von Kindern bis zu Erwachsenen und Senioren, und aller Berufsgruppen. Aber auch unter ihren Kollegen im Spital merkte sie mehr Ekzeme. Sie alle erzählen die gleiche Geschichte: Man habe eine Allergie. „Fragte man dann nach, erzählten sie, dass sie sich alle brav am Tag zehn bis 20 Mal die Hände wuschen und natürlich auch Desinfektionsmittel verwenden“, erzählt Khalifa-Paruch der „Presse am Sonntag“. „Nur hat es eben diese Desinfektionsmittelknappheit gegeben – und das heißt, es kamen auch nicht so seriöse und geprüfte Präparate auf den Markt und das war verheerend.“ Nicht nur, aber auch diese neu hergestellten Desinfektionsmittel verursachten bei ihren Patienten häufig Hautschäden, so die Ärztin. Bis heute.

Noch immer zu finden. Das ist insofern spannend, da die Notfallszulassung eigentlich mit 31. August 2020 auslief. Das ändert aber nichts daran, dass diese unter der Notfallszulassung auf den Markt gebrachten Desinfektionsmittel noch überall zu finden sind. In Drogerien, in Supermärkten, auch in Apotheken – zum Teil zu horrenden Preisen. Dort dürften sie aber gar nicht mehr zu finden sein. Ausnahme: Die Firmen haben um eine reguläre Zulassung angesucht, dann müssen sie jetzt aber das reguläre Verfahren durchlaufen. Seitens des Umweltbundesamtes heißt es: „Ja, es ist anzunehmen, dass noch Produkte nach Ablauf der Notfallgenehmigung nicht regelkonform am Markt sind. Da ist der Vollzug gerade dabei, diese zu überprüfen und wenn notwendig die nicht konformen vom Markt zu nehmen. Aber sie wissen, es sind zur Zeit sehr, sehr viele Desinfektionsmittel erhältlich, die kontrolliert werden müssen“, so Christoph Zutz.

Um das zu verstehen muss man auch wissen, was ein gutes Desinfektionsmittel ausmacht. Erstens ist es einmal ein Biozid. Das heißt, es kann nicht mit „bio“ oder „natürlich“ beworben werden. Zweitens: Es steht „viruzid oder begrenzt viruzid“ darauf, denn so ist sichergestellt, dass es auch gegen Coronaviren hilft. Es steht eine Einwirkzeit darauf (normalerweise um die 30 Sekunden) und es enthält einen Pflegestoff wie Dexpanthenol oder Glycerin. Die Information kommt von einem, der es wissen muss, Christoph Klaus, Genetiker und gewerblicher Geschäftsführer von Schülke & Mayr, einer der etablierten Desinfektionsmittelhersteller, die etwa auch Polizei und Bundesheer mit Desinfektionsmittel versorgen. Weiters fügt er hinzu: „Es sollen auch keine Duftnoten drinnen sein wie Lavendel oder Zitrone oder ätherische Öle, weil sie bei häufiger Anwendung allergen wirken können.“ Und noch etwas sagt er: „Es muss explizit: Zur Händedesinfektion‘ am Etikett stehen. Wenn Hygienegel‘ oder Handgel‘ darauf steht, werden Begrifflichkeiten aus der Kosmetikindustrie verwendet. Da kann man schon sicher sein, dass es kein Desinfektionsmittel ist.“


Genügend Alkohol. Entscheidend ist freilich auch die richtige Menge an Alkohol: Denn damit ein Mittel gegen Viren oder Bakterien wirkt, muss der Alkohol ausreichend konzentriert sein. Laut Notfallszulassung waren 70 bis 80 Gewichtsprozent oder 77 bis 85,5 Volumprozent Ethanol ausreichend. Miranda Suchomel sieht das anders: Der untere Bereich ist eigentlich schon fast zu wenig, um nach kurzer Zeit (und damit praxistauglich) wirksam zu sein. Suchomel hat sich schon vor der Pandemie jahrelang mit der WHO-Formulierung beschäftigt. Ihre Erkenntnisse werden auch im epidemiologischen Bulletin des RKI zitiert, das auf der WKO-Seite zur Desinfektionsmittel-Herstellung abzurufen ist. Dort heißt es sinngemäß, dass die originalen WHO-Formulierungen bei einer Einwirkzeit von 30 Sekunden „die erforderliche Wirksamkeit für hygienische Händedesinfektion“ nicht erreichten. Nur wenn das Mittel zwei Mal für je 30 Sekunden angewendet wurde, erreichte es den Wirkungsgrad. Für die chirurgische Desinfektion reichte es nie.

Die Empfehlung: Die Konzentration zu erhöhen – bei Ethanol wären das 80 Gewichtsprozent oder 85,5 Volumprozent. Die oberste Vorgabe der Notfallszulassung also. „Aber blöd wär' ich als Hersteller gewesen, wenn ich 80 Prozent nehme, wenn 70 auch erlaubt sind“, sagt Suchomel trocken. Und: „Es war völlig egal, was man zusammenmischte. Die Leute hatten einen Freibrief.“

Den manche Schnapsbrennerei nutzte. Sowohl Miranda Suchomel als auch Christoph Klaus berichten von Desinfektionsmitteln, die nach Schnaps rochen. „Im Westen nach Zirbe, im Osten nach Marille“, kommentiert Christoph Klaus von Schülke & Mayr. „Beim Destillieren gibt es einen Vorlauf und einen Nachlauf und den trinken wir nicht, weil er giftig ist. Aufgrund der Toxizität wollen wir das auch nicht auf den Händen haben“, so Suchomel.

Zwar besagte die Notfallszulassung, dass der Alkohol eine Mindest-Reinheit von 96 Volumprozent haben musste, aber er musste eben nicht mehr von zertifizierten Lieferanten kommen. Die Hersteller durften ihre eigenen Rohstoffe nehmen. Der WKO war die Gefahr wohl bewusst, sie schrieb in einer Erklärung an die Mitglieder am 9. Juli 2020, dass „Fuselalkohol“ für die Herstellung „nicht geeignet“ sei.

Suchomel glaubt jedenfalls nicht, dass sich alle daran gehalten haben und den Alkohol niedriger brannten, auch auf die Gefahr hin, dass sich in den restlichen Volumsprozent Fuselakohole und -öle befanden. Immerhin brachten die Hersteller die Mittel eigenverantwortlich auf den Markt.

Dabei geht auch die WHO-Formulierung von absolutem Alkohol aus. „Jedes Dritteweltland muss sicherstellen, dass der Alkohol ein absoluter ist“, sagt Suchomel. „In Österreich ist das durch die Notfallszulassung komplett ausgeknockt worden.“ Und: „Da haben Menschen und Firmen Desinfektionsmittel hergestellt, die davor noch nie etwas damit zu tun hatten“, kritisiert sie. Sie weiß es, denn als die WKO ihre Mitglieder über die neue Regelung informierte, bekam sie plötzlich Anrufe: Wie man Desinfektionsmittel herstelle, wollten die Anrufer wissen.

Obstlergeruch inklusive. „Die Presse am Sonntag“ hat bei ihren Recherchen in Supermärkten, Drogerien und Apotheken jedenfalls auch ein Mittel einer Schnapsbrennerei gefunden. Obstlergeruch inklusive. Und noch viel mehr: Eine Fülle an Produkten, viele mit geringer Alkoholmenge (die geringste lag bei 45 Gramm Ethanol), die keine Einwirkzeit am Etikett stehen hatten – und die in ihrer Aufmachung aber daherkamen als seien sie hochwirksame Desinfektionsmittel. Erst vor Kurzem zog der Verein für Konsumenteninformation (VKI) in seinem Magazin „Der Konsument“ ein trauriges Resümee: Er testete 22 Handhygieneprodukte und ließ sie untersuchen. Nur vier Mittel waren als Virenschutz für unterwegs geeignet.

Ein Kosmetikprodukt? Doch das Problem ist nicht nur die Notfallszulassung. Viele der in Drogerien oder Supermärkten angebotenen Produkte fallen gar nicht unter das Biozid-Gesetz, sondern sind reine Kosmetikprodukte. Begriffe wie „Hygiene-Handgel“ oder „reinigendes Handgeld“ sind laut Christoph Zutz der Kosmetikindustrie zuzuordnen. Dass diese Produkte auf Verkaufsständern platziert sind, die mit „Sicherheit“ und „Schutz“ werben und neben etablierten Desinfektionsmitteln stehen, macht die Sache nicht einfacher. Auch „Der Konsument“ schreibt: „Durch die aus unserer Sicht unvollständige Deklaration und die Vermischung der Produkte im Handel, ist es für Konsumenten nur schwer möglich adäquate Mittel auszuwählen.“

Dabei ist das Problem kein unbekanntes. In einem Leitfaden vom 20.November 2020 macht die Europäische Kommission klar, dass keine irreführenden Bezeichnungen auf Kosmetikprodukten zu finden sein sollen. Nach dieser Liste wird laut dem zuständigen Umweltministerium auch kontrolliert. Worte wie „wirkt antibakteriell, viruzid, desinfiziert“, „tötet X Prozent an Bakterien oder Viren“ dürften nicht draufstehen. Auch „zur Händedesinfektion“ ist unzulässig, heißt es von der Ages, die für Kosmetikprodukte zuständig ist.

Trotzdem fand die „Presse am Sonntag“ Produkte, die sich als „Handgels“ bezeichneten und mit Desinfektion warben. „Für viele Produkte, die Sie noch sehen, gibt es schon laufende Verfahren oder Verbesserungsaufträge. Wir haben Vollzugsschwerpunkte. Wir sind dabei“, heißt es dazu seitens des zuständigen Umweltministeriums.

„Da werden rechtliche Grauzonen ausgereizt“, kritisiert auch Christoph Klaus von Schülke & Mayr. „Ein Kunde denkt natürlich, das ist ein Gel gegen Viren, der Käufer soll sich in Sicherheit wiegen.“ Ihn ärgert das Thema naturgemäß: Nicht weil er Angst vor Konkurrenz hat, sondern weil er um das Image seiner Branche fürchtet. „Die Leute bekommen Hautschäden davon oder sie wirken nicht. Nachher heißt es, Desinfektionsmittel sind schlecht.“ Denn die Bezeichnungen sind für Laien kaum zu durchblicken. Ein Mittel, das zu 99,9 Prozent gegen Viren und Bakterien wirkt, wirkt nicht genug. Es müsste 99,999 Prozent (bei Bakterien) oder 99,99 Prozent (bei Viren) draufstehen. Die Kommastelle mache den Unterschied, sagt Suchomel.

Dass hier für den Konsumenten vieles nicht mehr zu durchschauen ist, weiß man auch im Umweltbundesamt. Die „Presse am Sonntag“ schickte (auf Bitte von Christoph Zutz) Fotos von Hand- und Hygienegels und Hände-Desinfektionsmittel per Mail an das Amt und bat um eine Experten-Einschätzung für Konsumenten: Sind das Desinfektionsmittel oder Kosmetikprodukte, gibt es Beanstandungen, gehören die – weil sie unter der Notfallszulassung auf den Markt kamen – vom Markt genommen? Die Antwort: keine klare. Denn plötzlich schaltete sich die Pressestelle ein: „Eine Beurteilung der Marktfähigkeit von Biozidprodukten obliegt ausschließlich der Vollzugsbehörde (. . .). (den Landeschemikalieninspektionen, Anm.)“ Immerhin: „Kennzeichnung und Informationen auf den Produkten weisen sie als Desinfektionsmittel aus.“ Zur Wirksamkeit heißt es aber: „Aus den auf der Verpackung zu Verfügung stehenden Informationen kann aber keine Aussage zur Wirksamkeit der Zusammensetzung des Biozidproduktes getroffen werden. (. . .) Bei behördlichen Kontrollen werden detaillierte Informationen vom Hersteller eingeholt, um die Marktfähigkeit des Produkts zu prüfen.“

Um es in anderen Worten zu formulieren: Das Umweltbundesamt, mit all seiner Expertise, sah sich nicht in der Lage, Desinfektionsmittel für den Laien rasch einzuordnen. Wie soll es da eine Privatperson im Geschäft tun?

Es gibt eine Liste. Antwort: Bewährtes verwenden. „Wenn Sie wirklich sicher gehen wollen, dann nehmen Sie Produkte, die vor der Notfallszulassung am Markt waren, die bekannt sind und die für Qualität stehen“, sagt Christoph Zutz selbst. Nachsatz: „Ich mache das selbst genauso.“ Auch Miranda Suchomel sagt: „Ich verwende Desinfektionsmittel nur von namhaften Firmen.“ Denn: Geprüfte Desinfektionsmittel führen nicht zu Hautschäden – und sie können auch häufig verwendet werden, sie sind dafür gedacht, zig Mal am Tag auf die Hände zu gelangen.

Eine Liste mit diesen gibt es im Österreichischen Expertisenverzeichnis der Österreichischen Gesellschaft für Hygiene, Mikrobiologie und Präventivmedizin. „Alle Produkte, die da angeführt sind, sind zumindest zweifach auf ihre Wirksamkeit geprüft“, sagt Suchomel. In Deutschland ist es die VAH-Liste. Bekannte Desinfektionsmittel kommen etwa von Mundipharma, Schülke & Mayr oder B. Braun.

Und dann gibt es freilich noch die Möglichkeit sich die Hände zu waschen. „Denn eigentlich haben wir mit den Coronaviren Glück, weil sie sich durch Händewaschen mit Seife zerstören lassen“, sagt Suchomel. Wer sich allerdings übertrieben oft die Hände wäscht, bekommt Hautschäden (siehe Artikel unten).

Ohnehin bereitet ihr etwas anderes Sorgen: „Desinfektionsmittel haben die Aufgabe Mikroorganismen zu töten. Wenn wir zu viel falsch oder mit zu geringen Konzentrationen desinfizieren, können Resistenzen entstehen, ähnlich wie bei Antibiotika. Wenn wir Pech haben, lernen Mikroorganismen sich in Zukunft diesen Mitteln zu widersetzen. Das Coronavirus wird möglicherweise nicht unsere letzte Pandemie gewesen sein.“

Fakten

Desinfektionsmittel. Gute Mittel sind auf Basis von Alkohol. Sie sind Biozide und können nicht mit „bio“ oder „natürlich“ beworben werden. Es steht weiters „viruzid“ oder „begrenzt viruzid“ darauf, denn so ist sicher, dass sie auch gegen Coronaviren wirken. Es steht eine Einwirkzeit darauf (meist um die 30 Sekunden) und sie enthalten einen Pflegestoff wie Glycerin oder Dexpanthenol. Sie enthalten keine Duftstoffe, denn die könnten allergen wirken.

Eine Liste mit zweifach geprüften Desinfektionsmitteln ist im Expertisenverzeichnis der Österreichischen Gesellschaft für Hygiene zu finden. expertisen.oeghmp.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2021)

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