Der Konflikt zwischen der EU und Frankreich eskaliert. Justizkommissarin Reding stellt Verfahren binnen zwei Wochen in Aussicht und zieht Vergleich zu Verfolgung von Minderheiten durch die Nationalsozialisten.
BRÜSSEL. Der seit Wochen schwelende Konflikt zwischen der französischen Regierung und der Europäischen Kommission wegen der gezielten Ausweisung von Roma durch die französische Polizei ist am Dienstag eskaliert.
Viviane Reding, die luxemburgische Kommissarin für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft, stellte in einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz Frankreich ein Vertragsverletzungsverfahren in Aussicht, bezichtigte zwei Minister von Präsident Nicolas Sarkozys Regierung indirekt der Lüge und verglich das Vorgehen der französischen Behörden mit der rassistisch motivierten Verfolgung von Minderheiten in der Nazizeit.
„Das ist eine Situation, von der ich gedacht hatte, dass Europa sie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr würde erleben müssen“, sagte Reding. „Ich kann nur mein tiefstes Bedauern darüber ausdrücken, dass die politischen Zusicherungen zweier französischer Minister, die den amtlichen Auftrag hatten, diese Angelegenheit mit der Europäischen Kommission zu diskutieren, jetzt durch ein behördliches Rundschreiben derselben Regierung widerlegt werden.“
Amtlicher Erlass zur Roma-Jagd
Seit Jahresbeginn haben Frankreichs Sicherheitsbehörden mehr als 8000 nicht-französische Roma, die zumeist aus Rumänien stammen, des Landes verwiesen beziehungsweise nach Räumung und Zerstörung ihrer illegalen Lager zur Ausreise „überredet“. Offiziell geschah das mit der Begründung, dass diese Menschen nach drei Monaten Aufenthalt in Frankreich weder einen Wohnsitz noch eine feste Arbeit hätten und folglich nicht selbstständig für ihren Lebensunterhalt sorgen könnten.
Eine Ausweisung von EU-Bürgern ist unter diesen Bedingungen zwar erlaubt. Doch muss jeder Fall einzeln geprüft werden, hatten Redings Juristen in einem rechtlichen Gutachten festgehalten.
Doch genau diese Einzelfallprüfung ließ Frankreich vermissen. Am Wochenende sickerte das von Reding angesprochene amtliche Rundschreiben an die Öffentlichkeit. In diesem Schreiben, datiert vom 5. August, weist Innenminister Brice Hortefeux die Polizei an, binnen drei Monaten mindestens 300 illegale Siedlungen aufzulösen, „vorrangig jene der Roma“, und mindestens eine pro Woche.
Als Einwanderungsminister Eric Besson und EU-Staatssekretär Pierre Lellouche Reding über das Vorgehen gegen die Roma Bericht erstatteten, verschwiegen sie ihr dieses Schreiben.
„Ich bin persönlich überzeugt, dass die Kommission keine andere Wahl haben wird, als zwei Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich zu eröffnen“, sagte Reding. Erstens, weil Paris die Richtlinie über die Bewegungsfreiheit für Unionsbürger diskriminierend anwende. Zweitens, weil Paris die inhaltlichen und Verfahrensgarantien, die Unionsbürgern aus dieser Richtlinie erwachsen, mangelhaft umsetze. Die Kommission könne dieses Verfahren binnen der nächsten 14 Tage eröffnen, sagte Reding.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.09.2010)