Paris hat die EU allzu lange als Spielzeug eigener Machtgelüste betrachtet. Nun wird dies langsam zur Gefahr.
Das eine Phänomen heißt Sarkozy, ein unsteter Präsident, der keinen Widerspruch duldet. Das andere Phänomen ist die ungestillte Machtlust, mit der Frankreichs Führung seit Jahrzehnten die Europäische Union als Spielzeug eigener Interessen betrachtet. Beides ist nicht neu. Doch die Mischung aus einem mittlerweile angeschlagenen egozentrischen Politiker und einer traditionell selbstherrlichen Pariser Europapolitik droht nun zu explodieren. Dies wurde dieser Tage bei dem Konflikt um eine Roma-Massenausweisung deutlich, die klar gegen EU-Recht verstößt. Es geht um nichts Geringeres als um die Frage, ob gemeinsames europäisches Recht auch in Frankreich Anwendung findet oder nicht.
Die historischen Wurzeln für diese Eskalation reichen weit zurück. Frankreich hat von Beginn an versucht, die Europäische Union als weitere Dimension der eigenen Nation auszubauen. Es nutzte Krisen und Konflikte zur jeweiligen Ausweitung seiner Macht auf europäischer Ebene. Mit viel Geschick okkupierte Paris wichtige Schlüsselposten in den EU-Institutionen. Die Regierung förderte die Ausbildung hoch qualifizierter europäischer Beamter, die später als verlängerter Arm des Élysées in Brüssel dienten. So wurde etwa die EU-Agrarpolitik zum Wunschkonstrukt der eigenen Agrarindustrie. Kein anderes Land profitiert heute so stark von diesen Fördermitteln. Die EU-Sicherheitspolitik wurde auf Wunsch Frankreichs zum Gegenpol der Nato ausgebaut. Die EU-Außenpolitik wird derzeit mit viel Bemühen an die französische Leine genommen.
Wenn der Pariser Staatssekretär Pierre Lellouche nun in der Roma-Frage von einer schweren „Entgleisung“ der EU-Kommission spricht, so ist das symptomatisch für einen überheblichen Zugang zu Europa. „So behandelt man keinen großen Staat“, polterte er zur Ankündigung der zuständigen Kommissarin Viviane Reding, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen sein Land einzuleiten.
Frankreich sieht die gemeinsam in Europa entwickelten Regeln offensichtlich nur als lästiges Beiwerk einer supranationalen Konstruktion, die man als Eigentum betrachtet. EU-Regeln, die der französischen Politik widersprechen, wurden schon in der Vergangenheit gerne gebrochen. Etwa, als Paris die Defizitgrenze des Euro-Stabilitätspakts nicht mehr einhalten konnte. Damals wurde das Einschreiten der Brüsseler Währungshüter politisch abgeschmettert. Gemeinsam mit Deutschland wurde das Regelwerk umgeschrieben und an die eigenen Schwächen angepasst.
Schon Jacques Chirac lehnte „blaue Briefe“ aus Brüssel als ungehörigen Affront ab. Sein Nachfolger Nicolas Sarkozy sieht das nicht anders. Eine Zurechtweisung aus dem EU-Hauptquartier, das nach französischer Interpretation nur durch einen historischen Fehler nicht in Paris, sondern in Brüssel angesiedelt wurde, will der Präsident nicht hinnehmen. Das EU-Regelwerk, das Frankreich eigentlich mitbeschlossen hat, wird nur so lange akzeptiert, als es andere Länder beschränkt.
Nicolas Sarkozy hatte gehofft, mit der Räumung von Roma-Lagern und der Ausweisung dieser Menschen innenpolitisch zu punkten. Dabei wollte er nicht von äußeren Einwänden gestört werden. Ob dies dem EU-Diskriminierungsverbot oder der Freizügigkeit von EU-Bürgern widerspricht, war für den Präsidenten zweitrangig.
Kurios eigentlich: Frankreich hat zwar seine Macht auf Europa ausgeweitet, ist aber nicht bereit, seine republikanischen Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auch auf dieser neuen Basis anzuwenden. Frankreich kann sein soziales Roma-Problem auf andere abwälzen. Es kann Binnenmarktregeln brechen, um die eigene Industrie und seine eigenen Arbeitnehmer zu bevorzugen. Die französische Führungselite kann das aus eigenem Selbstverständnis betreiben, weil ihre Nation groß ist und in der EU mächtig, und weil sie bisher auch niemand in die Schranken gewiesen hat.
Das Heikle daran sind aber nicht nur die negativen Auswirkungen für einzelne andere Länder. Eine solche Situation untergräbt die Europäische Union, macht sie zum Spielball nationaler Interessen. Sie nimmt der Gemeinschaft die Kraft, notwendige Reformen voranzutreiben, soziale und wirtschaftliche Probleme zu lösen, statt sie zu verschieben.
Sarkozy ist kein Einzelfall in der französischen Geschichte. Er, der innenpolitisch nur noch wenig Kredit hat, ist bereit, Europa für seine eigene Rettung zu verkaufen.
Sarkozy auf Abwegen Seite 1
Ein Präsident auf zu hohen Stelzen Seite 2
wolfgang.boehm@diepresse.com
("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.09.2010)